Was ist Anthroposophie?

Was ist Anthroposophie?

 

Es gibt mindestens drei sehr verschiedene Dinge, die mit dem Wort “Anthroposophie” bezeichnet werden können und die oft nicht recht auseinander gehalten werden:

  • ein Weg zu “übersinnlicher” Erkenntnis im Sinne einer eigenständigen Forschung “auf geistigem Gebiet”,
  • die Lehren Rudolf Steiners, wie sie im wesentlichen in seinen Buchveröffentlichungen sowie in mitstenographierten mündlichen Vorträgen festgehalten sind, sowie
  • die “real existierende” Anthroposophie, wozu man verschiedene anthroposophische Institutionen rechnen kann, aber auch alles das, was Menschen, die sich Anthroposophen nennen, im Namen “der” Anthroposophie tun.

Auf diese drei Hauptbedeutungen werde ich der Reihe nach etwas näher eingehen. In einem Anhang kommentiere ich ergänzend, was Anthroposophie nicht ist, sondern was sich ein vermeintlicher Anthroposophie-Kritiker anstelle der Anthroposophie vorgeknöpft hat.

 

1.) Anthroposophie als Erkenntnisweg

Etwa ab 1902 trat Rudolf Steiner (1861-1925) mit dem Anspruch auf, einen eigenständigen Zugang zu “übersinnlichen” Erkenntnissen zu haben. Dabei handele es sich um die Entwicklung innerer, “geistiger” Organe, mit deren Hilfe man eine “geistige Forschung” betreiben könne, ähnlich wie mit Hilfe der konventionellen Sinnesorgane z.B. Naturforschung betrieben wird.

Dieser innere Erkenntnisweg ist nach Steiner im Prinzip für jeden Menschen offen. Erforderlich ist dazu die Entwicklung der erwähnten geistigen Organe. Das könne bei manchen Menschen spontan geschehen, sei aber auch durch eine geeignete Schulung erreichbar.

Im Unterschied zu älteren “Einweihungswegen”, wie sie in vielen Kulturkreisen existiert haben, setzte Steiner nicht auf die Unterwerfung des Schülers unter einen Meister (“Guru”) oder unter einen Ritus, sondern ganz auf die Eigenständigkeit des “Geistesschülers”, der lediglich Hinweise zum freien Gebrauch erhält. Steiner ging sogar noch einen Schritt weiter, indem er seine Hinweise und Anleitungen nicht nur an persönlich ausgewählte Schüler weitergab, sondern sie in Form von Zeitschriftenartikeln veröffentlichte, so dass sie wirklich jedermann frei zugänglich wurden. (Heute in Buchform erhältlich unter den Titeln “Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?” und “Die Stufen der höheren Erkenntnis”.)

Zu dem von Steiner beschriebenen Schulungsweg gehören verschiedene Arten der Meditation, durch welche die inneren Wahrnehmungsorgane herangebildet werden sollen. Es gehört aber auch die Beachtung zahlreicher Vorbedingungen und Vorsichtsmaßnahmen dazu, ohne welche das Meditieren im besten Fall nutzlos, in weniger günstigen Fällen hingegen schädlich sei, indem es allerlei unerwünschte Eigenschaften verstärkt. Nicht das Herbeiführen aussersinnlicher Wahrnehmungen sei die eigentliche Schwierigkeit, sondern diese Entwicklung so zu gestalten, dass es sich wirklich um ein erweitertes Erkennen handeln kann.

Die angestrebten übersinnlichen Wahrnehmungen selbst beschreibt Steiner zumeist als sehr subtil. Man könne sie leicht übersehen, zumal sie auch von ganz anderer Art seien als sinnliche Wahrnehmungen. Nicht berauschende Visionen werden also angestrebt, sondern etwas zunächst ganz Unspektakuläres. Auch müsse man erst lernen, diese Wahrnehmungen zu “lesen”. Sie treten nicht als Offenbarungen auf, deren Sinn unmittelbar klar wäre. Im weiteren Verlauf sind jedoch verschiedene Stufen der übersinnlichen Erkenntnis zu unterscheiden, wobei das Verhältnis des Erkennenden zum Erkannten sich grundlegend ändert (Imagination, Inspiration, Intuition).

Neben all den Einwänden, die gegen die Möglichkeit eines solchen Erkenntniswegs aus verschiedenen Richtungen geltend gemacht werden können, erscheint mir ein Punkt als besonders kritisch bei der Bewertung des Ganzen: Steiners Anspruch, seine Lehren (siehe unten bei Punkt 2) auf eine für jedermann gangbare Weise erforscht zu haben, steht seit hundert Jahren im Raum. Ebenso lange sind seine grundsätzlichen Anleitungen für den Schulungsweg öffentlich zugänglich (die erwähnten Aufsätze erschienen 1904 bis 1908), und in Buchform fanden sie in zahlreichen Auflagen eine weite Verbreitung. Seit achtzig Jahren besteht in Dornach bei Basel die von Steiner gegründete “Freie Hochschule für Geisteswissenschaft”, deren offizielle (von Steiner formulierte) Aufgabe die “Forschung auf geistigem Felde” sein soll. Dazu kommt noch die inzwischen weltweit vertretene Anthroposophische Gesellschaft, deren erklärte Aufgabe die Förderung dieser Hochschule ist. Trotz all dieser Umstände sind aber seither kaum irgendwelche Persönlichkeiten aufgetreten, bei denen der Schulungsweg ähnliche Früchte getragen hätte wie bei Steiner.

Für diese Diskrepanz gibt es eine lange Reihe möglicher Erklärungen. Ich nenne ein paar markante Beispiele:

  • Steiner war ein Scharlatan.
  • Steiners vermeintliche “Geistesforschung” bestand in Wirklichkeit aus Illusionen, die deshalb niemand durch eigene “Forschung” bestätigen oder auch im Detail korrigieren kann, weil andere “Schauende” halt ganz andere - ebenfalls subjektive - Visionen haben.
  • Steiners Geistesforschung war mehr oder weniger korrekt, aber seine Vorstellung, wie auch Andere mittels eines freilassenden Schulungswegs ihm dahin folgen könnten, erwies sich als nicht praktikabel.
  • Ein solcher Schulungsweg wäre zwar mit Erfolg möglich, aber Steiners überlieferte Anleitungen reichen als Grundlage nicht aus.
  • Die Anleitungen wären zwar durchaus mit Erfolg umsetzbar, aber die sozialen Verhältnisse - insbesondere innerhalb anthroposophischer Kreise - machen das praktisch unmöglich.
  • Es gab und gibt zwar nicht wenige Personen, die wie Steiner erfolgreich geistige Forschung betreiben, aber aus irgendwelchen Gründen treten sie damit kaum an die Öffentlichkeit.

Von diesen Denkmöglichkeiten halte ich die erste für die unwahrscheinlichste, weil das gar nicht dazu passen würde, wie Zeitzeugen die Person Steiner schilderten. Die übrigen Alternativen haben alle eine gewisse Plausibilität. Bezeichnend ist jedoch, daß unter Anthroposophen darüber kaum ansatzweise diskutiert wird.

 

2.) Anthroposophie als esoterische Lehre

Neben seinen Anleitungen zur Erlangung eigenständiger geistiger Erkenntnisse hinterließ Steiner ein gewaltiges Repertoire an Mitteilungen von Ergebnissen seiner (vermeintlichen?) Forschung. Ganz überwiegend handelt es sich dabei jedoch um mitgeschriebene (und von Steiner nicht durchgesehene) mündliche Vorträge. Die wichtigsten ganz von ihm selbst verfaßten Texte sind die Bücher “Theosophie” (1904) und “Die Geheimwissenschaft im Umriss” (1910).

Angesichts des Umfangs seines anthroposophischen Vortragswerks wundert es nicht, dass Steiners Anthroposophie zu fast allem etwas zu sagen hatte. Dabei richtete er sich wohl sehr weitgehend danach, was die Hörerschaft (zumeist Mitglieder der Theosophischen, später Anthroposophischen Gesellschaft) an Fragen an ihn herantrug. Als zentrale Themen schälen sich jedoch im Vortragswerk wie auch in seinen anthroposophischen Büchern heraus:

  • eine Betrachtung des Menschen als körperliches, seelisches und geistiges Wesen,
  • die Reinkarnation des “geistigen Wesenskerns” des Menschen sowie
  • eine Betrachtung der Weltentwicklung aus geistiger Sicht.

Das anthroposophische Menschenbild umfasst schon in seinem körperlichen oder leiblichen Aspekt mehr als das naturwissenschaftlich geprägte Menschenbild. Neben dem physischen Leib wird ein Lebensleib oder Ätherleib und ein Empfindungsleib oder Astralleib beschrieben. Das allein ist schon eine komplexe Angelegenheit. Dazu kommt nun der seelische Aspekt, der sich etwa mit dem deckt, was man als das eigene Seelenleben kennt. Der geistige Aspekt schließlich ist etwas, was die Menschen heute größtenteils noch nicht bewusst erleben. (Insofern bedeutet “Geist” und “geistig” bei Steiner und bei Anthroposophen etwas erheblich Anderes als im sonst üblichen Sprachgebrauch.)

Gerade dieser geistige Anteil des Menschen ist nun aber nach Steiner dasjenige, was der Reinkarnation unterliegt, indem es nach dem Tod erhalten bleibt und sich mit neuen seelischen und körperlichen “Hüllen” umgibt. Deshalb wissen wir gewöhnlich nichts von unseren früheren Inkarnationen. Wohl aber wirken diese nach - in uns selbst wie in unserer Umwelt. Dieses “Karma” hat jedoch nicht den Charakter eines unabwendbaren Schicksals oder eines unbarmherzigen Ausgleichs im Sinne von “Auge um Auge”. Vielmehr gestalten wir es selbst, indem wir als eigentlich geistige Wesen in der Mitte zwischen zwei Inkarnationen den Entschluss fassen, wegen unserer in diesem Zustand bewussten karmischen Verstrickungen eine erneute Inkarnation anzustreben, wobei wir uns mit solchen seelischen und körperlichen Hüllen umgeben, wie sie uns für das, was wir angesichts der Folgen unserer früheren Taten als neue Tatimpulse fassten, geeignet erscheinen. In diesem Zusammenhang wählen wir auch schon lange vor der Geburt unsere künftiges familiäres Umfeld, später dann Geburtszeit und -ort.

Derartige Vorgänge kann der Geistesforscher verfolgen, auch wenn sie längst vergangen sind. Auch die früheren Inkarnationen heute lebender oder historischer Personen gehören dazu. Und in weiterem Umfang das Weltgeschehen in früheren Zeiten aus einer geistigen Perspektive, welche sich zum Teil mit der konventionellen Geschichtsschreibung in Verbindung bringen läßt, andererseits aber in eine weit fernere Vergangenheit zurückreicht.

 

3.) Die real existierende Anthroposophie

Der Lehre Steiners möchte ich hier gegenüberstellen, wie mit dieser umgegangen wird und was aus ihr in der realen Welt hervorging. Dabei gehe ich auch besonders darauf ein, wie es in diesen Zusammenhängen um Forschung oder auch nur um die Möglichkeit von Forschung bestellt ist.

Das Herzstück der real existierenden Anthroposophie sollte nach Steiners Intention die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft werden, die er 1924 in Dornach gründete. Als Aufgabe dieser Hochschule hatte er die Forschung auf geistigem Gebiet vorgesehen. Zunächst plante er die Durchführung einer esoterischen Schulung in drei “Klassen”, von denen jedoch nur die unterste realisiert wurde, weil Steiner erkrankte und im Jahr darauf starb. Für diese erste Klasse konnte er noch eine Reihe von Vorträgen halten, welche auch schriftlich festgehalten wurden - und seither in der formal weiter bestehenden Hochschule regelmäßig vorgelesen oder frei rezitiert werden (sog. “Klassenstunden”).

Mit anderen Worten: Der einzige Lehrer dieser Schule starb, bevor auch nur ein Schüler die erste Klasse erfolgreich bestanden hatte - was darin zum Ausdruck gekommen wäre, daß er in die zweite Klasse aufgenommen worden wäre. Der Lehrer hatte trotz seiner schweren Krankheit keinen Nachfolger für den Fall seines Todes ernannt - wie es nach den bei der Gründung festgelegten Bestimmungen erforderlich gewesen wäre, damit die Schule nach Steiners Tod formal weiter bestehen konnte. Aber einige der Schüler meinten, man könne dieses so vielversprechende Projekt nicht sterben lassen. So schlüpften sie selber in die Rolle des Lehrers, verlasen und rezitierten die Worte, die im Unterricht getreulich mitgeschrieben worden waren, ernannten ihrerseits Nachfolger, die das “Recht” erhielten, diese Texte ebenfalls zu verlesen oder zu rezitieren, und das alles nennt sich auch nach 80 Jahren weiterhin “Hochschule”. (Siehe zum Vergleich die Website dieser Hochschule.)

Dazu kam ein Streit um die Rechte an diesen Texten - wie überhaupt an dem ganzen schriftlichen Nachlass Steiners. Der verehrte Lehrer hatte nämlich sämtliche Rechte testamentarisch an seine Ehefrau Marie übertragen, die auch schon lange vor seinem Tod mit der Herausgabe der mitgeschriebenen Vorträge betraut gewesen war. Jedoch erkannte die Anthroposophische Gesellschaft, die Steiner 1923 zwecks Unterstützung seiner geplanten Hochschule gegründet hatte, dieses Testament nicht an. Die Anhängerschaft - organisiert in der Anthroposophischen Gesellschaft - betrachtete Steiners geistigen Nachlass als ihr Eigentum und ignorierte sein “letztes Wort”. So gab - und gibt es bis heute - neben den legalen Publikationen Steiners auch illegale Vervielfältungen von Leuten, die sich als “spirituelle” Nachfolger Steiners betrachten und die Existenz der legalen - und sorgfältig editierten - Gesamtausgabe nicht einmal der Erwähnung würdig finden. Bis in die 70er Jahre waren im Goetheanum, dem Sitz der “Hochschule” mit integrierter Buchhandlung, Steiners Werke nicht erhältlich, weil man mit der nur einen Steinwurf weiter residierenden Nachlassverwaltung verfeindet war. Der Streit um die Texte der “Klassenstunden” wurde sogar erst in den 90er Jahren beigelegt.

Nun zur Anthroposophischen Gesellschaft. Eine solche hatte bereits seit 1913 existiert. 1923 versuchte Steiner, im Zuge einer formalen Neugründung an die Stelle dieser Anhänger-Organisation eine Fördergesellschaft für die geplante Hochschule zu setzen. Dieser Reform-Versuch blieb jedoch in ersten Ansätzen stecken, weil Steiner noch während der Gründungs-Feierlichkeiten erkrankte und danach nur noch einige Monate eingeschränkt arbeitsfähig war. So existiert seither eine Gesellschaft, deren von Steiner verfasste Statuten nicht viel mit der Wirklichkeit zu tun haben. Die Tätigkeit dieser Gesellschaft besteht hauptsächlich in der “Pflege” der überlieferten Lehren Steiners sowie zahlreicher Traditionen. Von der Förderung irgendwelcher Forschung, wie Steiner es im Sinn gehabt hatte, kann nur ganz am Rand die Rede sein. (Siehe auch hier zum Vergleich die Selbstdarstellung der Gesellschaft.)

Zu den mehr lebenspraktischen Dingen, die durch Steiners Anregung oder Initiative im Zusammenhang mit der Anthroposophie in die Welt kamen, gehören die Waldorfschulen, die biologisch-dynamische Landwirtschaft und die anthroposophische Medizin. Am bekanntesten wurden die Waldorfschulen, die an vielen Orten eine Alternative zu den staatlichen und konfessionellen Schulen bieten. Deshalb beschränke ich mich in dieser kurzen Abhandlung auf dieses Beispiel. Und weil ich es in seiner offenkundigen Realität als gut bekannt voraussetzen kann, äussere ich mich nur dazu, in welchem Verhältnis es zur Anthroposophie als Lehre und zur Frage der Forschung steht.

Der Zusammenhang zwischen der Waldorfpädagogik und der anthroposophischen Lehre ist durchaus problematisch. Vielen Waldorf-Eltern wird erst allmählich klar, was für eine esoterische Lehre hinter der Pädagogik steckt, der sie ihre Kinder anvertraut haben. Und gar zu oft steckt die Lehre nicht nur dahinter, sondern fließt auch in den Unterricht ein, indem etwa im Fach Geschichte auch “Atlantis” behandelt wird oder indem in Naturkunde Dinge erzählt werden, über die entsprechend gebildete nicht-anthroposophische Eltern nur den Kopf schütteln können.

Wenn auf der Website des Bundes der Waldorfschulen behauptet wird, Anthroposophie sei keine Lehre, so ist das schlicht falsch. Anthroposophie ist - unter anderem - eine Lehre (s.o.), und sie tritt als solche sehr wohl auch an den Waldorfschulen zutage. Das beginnt bereits bei der Ausbildung der Waldorflehrer (welche ich selbst absolviert habe), zu der eine massive Vermittlung anthroposophischer Lehrinhalte gehört. Das setzt sich fort in den Materialien, welche den Lehrern zur Vorbereitung des Unterrichts angeboten werden, und parallel dazu in den Veranstaltungen zur Fortbildung. So ist es unvermeidlich, dass auch den Schülern vielfach Anthroposophie serviert wird, auch wenn das offiziell nicht erwünscht ist.

Und wie steht es um die Forschung im Bereich der Waldorfschulen? Es existiert eine “Forschungsstelle”, die in Wirklichkeit aus zwei eigenständigen Mini-Instituten besteht und nur über sehr bescheidene Mittel verfügt. Das eine der Mini-Institute, dem ich vor Jahren für einige Monate als externer Mitarbeiter angehörte, schien überdies längere Zeit personell verwaist zu sein, denn in der 2002 eingerichteten Webpräsenz der Forschungsstelle wurde lediglich erwähnt, dass die dortige Arbeit an Georg Kniebe übergeben worden sei - und der war zu diesem Zeitpunkt bereits seit etlichen Jahren verstorben. Da konnte man dann rätseln, welche Wirklichkeit hinter der Formulierung steckte, die Arbeit des anderen Mini-Instituts sei “mit dem Namen Manfred von Mackensen verbunden” ... . Auf der aktuellen Website sind diese unfreiwillig komischen Formulierungen nicht mehr zu finden, aber Informationen über aktuelle Forschungsprojekte oder aktiv forschende Mitarbeiter sucht man weiterhin vergebens.

Zur real existierenden Waldorfpädagogik gehört, dass die Unterrichts-Inhalte sich erheblich von denen an anderen Schulen unterscheiden. Das folgt aus der Zielsetzung, den Kindern und Jugendlichen zu bieten, was ihnen bei ihrer persönlichen Entwicklung hilfreich sein kann, während im konventionellen Schulsystem die Vermittlung von Fertigkeiten und Kenntnissen im Vordergrund steht, die den Beschulten dann abverlangt werden können. Aber auch die humanitäreren alternativen Inhalte müssen erst einmal erarbeitet werden. In der Praxis wird das bei Waldorfs sehr weitgehend dem einzelnen Lehrer überlassen. Das bedeutet ein außerordentlich hohes Maß an Freiheit, sehr oft aber auch schlicht eine Überforderung.

Der Anspruch, z.B. einen weniger materialistischen Naturkunde-Unterricht anzubieten, kann nur dann verantwortbar eingelöst werden, wenn neben der materialistischen Mainstream-Wissenschaft auch geeignete alternative Inhalte zur Auswahl stehen. Daran herrscht aber auch nach über 80 Jahren Waldorfpädagogik noch ein eklatanter Mangel. Wenn überhaupt zu einem Thema Material zur Verfügung steht, dann meist nur von einem Autor oder Autorenkollektiv, mit dessen häufig sehr persönlicher Sichtweise man sich anfreunden kann oder auch nicht. Gewöhnlich sind die vorhandenen Ausarbeitungen alt bis sehr alt, und die behandelten Themen sind noch viel weniger zeitgemäß. So kann man leichter etwas über ein Thema der Naturforschung des 18. Jahrhunderts finden als über irgendein Thema der Biologie nach dem Zweiten Weltkrieg.

In dieser Mangelsituation basteln sich viele Lehrer ihre eigene alternative Weltsicht zusammen, welche sie dann den Schülern vermitteln. Neulinge übernehmen in ihrer Not, was sich bei erfahrenen Kollegen “bewährt” hat - was immer das bedeuten mag. In solch einem Milieu können sich Missverständnisse, Irrtümer oder auch blanker Aberglaube fantastisch ausbreiten. Das gilt besonders dann, wenn irgendeine Äusserung Steiners zu dem betreffenden Gegenstand überliefert ist, an deren vollkommen wörtlicher Auslegung auch dann keinerlei Zweifel erlaubt sind, wenn sie seit Jahrzehnten wissenschaftlich völlig unhaltbar ist (z.B. Steiners “Angaben” über Ameisensäure im Menschen, deren buchstäbliche Auslegung durch die Kasseler Forschungsstelle - Manfred von Mackensen - mit fundamentalistischem Eifer verteidigt und allen Ernstes als zentrales Thema für den Chemieunterricht in der 12. Klasse propagiert wird). Oder wenn ein namhafter Anthroposoph vor einem halben Jahrhundert über ein Thema promoviert hat und der Umstand, dass seine Ergebnisse keiner Nachprüfung standhielten, unter den Tisch fiel (hierzu ein Beispiel aus dem traditionellen Lehrgut der Stuttgarter Forschungsstelle). Oder wenn ein Pionier der anthroposophischen Naturforschung vor dem Zweiten Weltkrieg schlampig recherchierte und der daraus resultierende Nonsense bis heute in seinem “Standardwerk” als “naturwissenschaftlich belegt” verbreitet wird (hierzu ein Beispiel aus der “Forschung” der Hochschule in Dornach).

Was in solchen relativ gut dokumentierbaren Fällen schon erschreckend genug ist, kann aber nur die Spitze eines Eisbergs sein, wenn man in Rechnung zieht, daß in Waldorfkreisen möglichst wenig schriftlich und fast nichts öffentlich erfolgt. Hauptsächlich findet der “Informationsaustausch” mündlich statt, was von persönlichen Zweiergesprächen bis zu den sehr beliebten Vorträgen bei den alljährlichen Großveranstaltungen reicht. Es fehlt eine kontroverse, also auch kritische Waldorf-interne Literatur. (Die Auseinandersetzung mit oft wenig kenntnisreichen Waldorfgegnern ist dafür kein Ersatz.)

Ähnliches ließe sich über die Anthroposophische Medizin sagen (Näheres hier). In der real existierenden Anthroposophie lebt sich aus, was Anthroposophie als Lehre für die meisten Anthroposophen ist: eine gewaltige Offenbarung, der sehr viel Ehrfurcht und Gläubigkeit entgegengebracht wird. Anthroposophie als Forschung hingegen bleibt bislang ein Projekt Rudolf Steiners, das er vielleicht für sich selbst realisieren konnte (wie er behauptete), für das aber unter Anthroposophen - damals wie heute - nur ein marginales Interesse besteht.

Anhang: Was Anthroposophie nicht ist

Letzte Änderungen auf dieser Seite: 6. 1. 2006

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