Was ist Goetheanismus?

Was ist Goetheanismus?

 

Das Wort “Goetheanismus” bezeichnet im Bereich der Naturwissenschaften eine methodische Ausrichtung, die sich an den naturwissenschaftlichen Arbeiten Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832) orientiert. Dass dieser hochgerühmte Dichter sich auch über Jahrzehnte intensiv mit naturwissenschaftlichen Studien befasst hat, ist wenig bekannt. Erst recht wird überraschen, dass er selbst diesen Studien mehr Wert beimaß als seinen Dichtungen, die ihn schon zu Lebzeiten zum “Dichterfürsten” machten. Es gab und gibt bis heute jedoch Naturforscher, die bei ihrer eigenen Arbeit mehr oder weniger eng an Goethe anschließen und dies zum Teil auch dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie sich “Goetheanisten” nennen.

Worin genau die “goetheanistische Methode” besteht, ist schwer zu sagen. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass es keine funktionierende “Gemeinschaft der Goetheanisten” gibt, in der man sich über diese Frage verständigen würde. Es gibt - beispielsweise im Bereich der Botanik - gewisse methodische Traditionen, die als “goetheanistisch” bezeichnet werden, auch wenn sie zum Teil mit dem, was Goethe getan hat, nicht mehr viel gemein haben. Andererseits gibt es Botaniker, die methodisch sehr eng an Goethe anschließen, ohne dies aber besonders hervorzuheben und ihre Arbeiten deshalb irgendeinem Ismus zuzuordnen.

Wollte man die Frage “Was ist Goetheanismus?” also auf einer wissenschafts-soziologischen Ebene angehen (die Frage müsste dann genauer lauten: Was wird als “goetheanistisch” bezeichnet und was lässt sich eventuell als dem so Bezeichneten gemeinsam festmachen?), dann könnte man nur wenig befriedigende Antworten erhalten, weil die Verwendung des Etiketts “goetheanistisch” bisher allzu beliebig gehandhabt wurde.

Auf einer anderen, mehr wissenschafts-historischen Ebene könnte man die Frage so formulieren: Was wäre im Bereich der Naturwissenschaften sinnvollerweise als “goetheanistisch” zu bezeichnen, weil es sich methodisch an Goethes entsprechenden Arbeiten orientiert? Unter diesem Aspekt wird man Vieles hinzurechnen können, was bisher nicht mit dem Wort Goetheanismus in Zusammenhang gebracht wurde, während bei so manchen Gepflogenheiten, die traditionell als “goetheanistisch” bezeichnet werden, erhebliche Zweifel anzubringen wären, inwiefern das berechtigt ist. Aber auch zu dieser Formulierung der Frage “Was ist Goetheanismus?” liegt bislang keine befriedigende Antwort vor. In der offiziellen Wissenschaftshistorik kommt “Goetheanismus” nicht vor, und umgekehrt interessieren sich bekennende Goetheanisten wenig bis gar nicht dafür, wie der Rest der Menschheit (jenseits der eigenen Anhängerschaft) ihre Elaborate betrachtet.

Trotz dieser Schwierigkeiten lassen sich einige Stichworte benennen, die zwar keine präzise Umschreibung ergeben, aber doch eine hinlängliche Charakterisierung dessen, was für “Goetheanismus” typisch ist.

Das vielleicht beliebteste Stichwort in diesem Sinne ist “Ganzheitlichkeit”, ein Modewort der “alternativen” Szene im Bereich der Medizin und der Landwirtschaft - und als solches eher noch problematischer als “Goetheanismus”. Denn wenn man nachforscht, was sich etwa bei den alternativen Heilweisen hinter der behaupteten Ganzheitlichkeit verbirgt, so stößt man fast überall auf tradierte Lehren, die mit einer wissenschaftlichen Erforschung der Natur (darum geht es ja hier) wenig bis nichts zu tun haben. “Ganzheitlichkeit” ist in diesen Zusammenhängen fast schon gleichbedeutend mit einem Verzicht auf naturwissenschaftliche Forschung.

Dennoch macht es Sinn, auch im Bereich der Naturwissenschaft von einer ganzheitlichen Ausrichtung zu sprechen. Man meint dann das Bestreben, beim Blick auf die Teile das jeweilige Ganze nicht aus den Augen zu verlieren. Das Gegenteil wäre ein Reduktionismus, der das Ganze nur von seinen Teilen her verstehen will und sich deshalb eigentlich nur für letztere interessiert. So hat es sich etwa in der Biologie bald nach Goethe eingebürgert, bei der Untersuchung von Pflanzen und Tieren gleich zum Mikroskop zu greifen, die Zellen zu untersuchen (die Goethe noch nicht kannte) und zu meinen, damit alles wesentliche im Blick zu haben. Später trieb man die Reduktion noch weiter, man blickte auf Gene und Moleküle und meinte wieder, jetzt das Wesentliche erreicht zu haben, von dem her der Organismus als quasi zusammengesetztes “System” zu verstehen sei.

Dieses reduktionistische Vorgehen kann begeistern, berauschen. Es ist faszinierend, was für Welten sich da auftun. Aber man kann auch bemerken, dass etwas verloren geht. Von der Pflanze, wie sie mir auf der Wiese begegnet, bis zum einzelnen Molekül, das heutzutage ein typischer Gegenstand einer biowissenschaftlichen Arbeit ist, ist es ein weiter Weg. In der einen Richtung bekommt man ihn gewiesen, wenn man sich zum Biowissenschaftler ausbilden lässt. Aber zurück findet man ihn nicht. Was ich im Labor an Wechselwirkungen zwischen Molekülen erforschen kann, das sagt mir rein gar nichts über die Pflanze, wie sie mir in der Natur erscheint.

Es kann dann zum Bedürfnis werden, auch diese unmittelbare Erscheinung zu erforschen. Zumeist erschöpft sich das allerdings darin, ein wenig Ordnung in die Vielfalt zu bringen, indem man die Namen einiger Pflanzen kennenlernt und sie diversen Familien zuordnen kann. Das entspricht historisch dem Stadium der Botanik vor Goethe. Zwischen dieser “Schubladen-Botanik” und dem später einsetzenden Reduktionismus entwickelte Goethe eine Botanik, die sich mit großer Liebe zum Detail darauf einlässt, wie die Pflanzen wachsen, wie sie ihre Organe bilden und wie die Gestalten dieser Organe gesetzmäßig miteinander zusammenhängen. Damit begründete er die Vergleichende Morphologie, die allerdings bald in ein Nischendasein verdrängt wurde, als die reduktionistische Zelltheorie sich etablierte.

Ein liebevolles Interesse für die konkrete Erscheinung war es also, was Goethe auszeichnete (nicht nur in der Botanik). Das schloss für ihn aber nicht aus, daneben begeistert zu mikroskopieren und sich für chemische Analysen zu interessieren. Mikroskopieren und Analysieren muss ja nicht bedeuten, dass man vergisst, wovon man ausgegangen war.

Der Unterschied zwischen Goethe und den Reduktionisten, die in der Biologie seit 150 Jahren den Ton angeben, besteht also nicht darin, dass Goethe etwa kein Mikroskop und keinen Zugang zu chemischen Analysen gehabt hätte. Der Unterschied liegt vielmehr darin, dass Goethe sehr bewusst verfolgte, was er selber tat, wenn er etwa durch das Mikroskop blickte. Wenn er mikroskopierte, dann ließ er sich zwar begeistern, aber nicht berauschen. Und von chemischen Analysen erhoffte er sich Ergänzungen seiner Kenntnisse, nicht einen Durchbruch zu neuen Sphären, aus denen heraus das ihm bisher Bekannte erst wirklich erklärbar sein würde (wie es die Reduktionisten sehen).

Reduktionisten hegen die Erwartung, Erklärungen für das uns unmittelbar Entgegentretende zu finden, indem sie auf andere Ebenen springen, die sie als dem Unmittelbaren zugrundeliegend denken. Dieses Springen hat einen geradezu zwanghaften Charakter. Man ist erst zufrieden, wenn das Unmittelbare durch etwas Weiterhergeholtes “erklärt” ist. Die Sinneswelt ist Lug und Trug, die Wahrheit ist nur durch eine Offenbarung aus anderen Sphären zugänglich. Darin liegt eine merkwürdige Voreingenommenheit, die allerdings selten bemerkt wird, weil man - anders als Goethe - kaum wirklich mitverfolgt, was man da tut.

Hiermit kommen wir zu zwei weiteren Stichworten, die etwas für den Goetheanismus Typisches bezeichnen: das Ernstnehmen der Sinnesqualitäten und die methodische Besonnenheit.

Etwas überspitzt könnte man sagen: Goetheanismus ist qualitative Naturwissenschaft. Während im konventionellen Bereich das Etikett “qualitativ” eine abwertende Bedeutung im Sinne von “nicht exakt” hat, ist diese Bezeichnung hier positiv gemeint. Der Goetheanist macht Qualitäten wie Farben oder Formen als solche zum Gegenstand der Untersuchung und sucht in diesem Bereich nach Gesetzmäßigkeiten. Auch das kann sehr exakt gehandhabt werden, wobei Exaktheit allerdings etwas anders zu verstehen ist als gemeinhin üblich. Exakt im herkömmlichen Sinn wäre, was sich vollständig quantifizieren oder sonstwie formalisieren lässt. Dabei wird die Exaktheit dadurch erreicht, dass man das unmittelbar Gegebene auf Quantitäten (Zahlen) oder auf etwas ähnlich wie diese Handhabbares reduziert. Goethes Anspruch war es dagegen, auch die Farben selbst, wie sie uns erscheinen, so exakt zu untersuchen, wie ein Mathematiker die Welt der Zahlen untersucht. Und dies lässt sich auch sonst überall anstreben, wo wir es mit Qualitäten zu tun haben.

Insofern goetheanistische Untersuchungen dieser Zielsetzung folgen, erscheinen sie dem nicht damit vertrauten Leser oder Zuhörer vielfach wie bloße Beschreibungen, wie detaillierte Schilderungen von etwas Gegebenem, auf dessen “Erklärung” man vergeblich wartet. Der Goetheanist versucht eben nicht, zur Erklärung des Gegebenen in andere Bereiche zu springen. Ihm “erklärt” sich das, was er untersucht, durch die Gesetzmäßigkeiten, die er an diesem Untersuchungsgegenstand selbst bemerken kann, und zwar insbesondere durch ein systematisches Vergleichen ähnlicher Erscheinungen und durch das Aufsuchen von Korrelationen zwischen verschiedenen Erscheinungen.

Das systematische Vergleichen von Ähnlichem hat Goethe in der Botanik entwickelt (“Metamorphose der Pflanzen”, 1790). Damit begründete er die Vergleichende Morphologie. Die Methode des Vergleichens muss sich jedoch nicht auf Gestalten (griech. morphe) beschränken. Man kann z.B. auch Ökosysteme oder chemische Prozesse systematisch vergleichen und unter ihnen Verwandtschaften feststellen, wie es in den betreffenden Wissenschaften ja auch gemacht wird. Spezifisch goetheanistisch wäre es in diesem Zusammenhang, wenn man das Vergleichen und die dabei auffindbaren Gesetzmäßigkeiten als das Wesentliche ansehen würde - im Unterschied zu dem üblichen Bestreben, von da auf andere Ebenen zu springen und die eigentliche Erklärung immer andernorts zu suchen.

Nicht hinter den Phänomenen die Erklärung zu suchen, sondern bei den Phänomenen selbst zu bleiben und sich von ihnen “belehren” zu lassen, das war Goethes Leitspruch.

Der Unterschied zu einer bloßen Phänomenologie, zu einer bloßen Beschreibung der Phänomene, liegt darin, dass den im Bereich der Phänomene vorfindbaren Gesetzmäßigkeiten ein viel höherer Erkenntniswert beigemessen wird. Das setzt dreierlei voraus. Erstens müssen diese Gesetzmäßigkeiten mit einer besonderen Sorgfalt erkundet werden, denn es geht dabei nicht nur darum, unter irgendwelchen praktischen Gesichtspunkten eine Art Katalogisierung der Erscheinungen vorzunehmen, bevor man zu deren Erklärung auf ein anderes Gebiet springt. Der Goetheanist will also nicht ein beliebiges künstliches System den Phänomenen überstülpen, sondern er versucht, ganz exakt das natürliche System zu finden, die natürliche Ordnung, in welche die Erscheinungen sich eingebettet erweisen.

Dieses Vorhaben setzt wiederum zweitens voraus, dass man die Existenz einer solchen natürlichen Ordnung für möglich hält, und drittens, dass man eine etwaige Ordnung auch für erkennbar hält. Oft führen theoretische Erwägungen oder Überzeugungen zu der festen Erwartung, dass in diesem oder jenem Phänomenbereich gar keine sinnvolle Ordnung vorliegen kann, sondern nur eine zufällige, nicht weiter verstehbare Unordnung. Und selbst wenn man die Existenz einer gesetzmäßigen Ordnung voraussetzt, steht immer noch in Frage, ob der Mensch mit seinem begrenzten Erkenntnisvermögen diese überhaupt zu erkennen vermag.

Goetheanismus basiert demgegenüber auf einer sehr optimistischen Erwartungshaltung. Diese kann naiv sein, wie es bei Goethe anfangs der Fall war. Sie kann auf positiver Erfahrung beruhen wie bei Goethe in späteren Jahren und wie auch heute bei allen, die sich näher auf den Goetheanismus eingelassen haben. Und sie lässt sich schließlich auch erkenntnistheoretisch begründen, wie erstmals der Goethe-Herausgeber Rudolf Steiner (1861-1925) gezeigt hat (Näheres hier).

Bei den Phänomenen zu verweilen, bis man ihre natürliche Ordnung gefunden hat, bedeutet nicht, dass man mögliche Beziehungen zwischen verschiedenen Phänomenbereichen prinzipiell ignorieren muss. Es macht aber einen erheblichen Unterschied, ob ich schon recht früh bei der Untersuchung eines Bereichs solche Beziehungen zu anderen Bereichen aufsuche und darin gar die entscheidenden Erklärungen suche, oder ob ich mir zunächst in jedem Bereich einen Überblick verschaffe und dann erst näher auf die Querbeziehungen eingehe. Ein Beispiel dafür hat Goethe selbst in seiner Auseinandersetzung mit Newtons Optik ausführlich behandelt.

Vorschnell hergestellte Querbezüge zwischen verschiedenen Phänomenbereichen können hauptsächlich zu zwei Typen von Fehlurteilen führen: Erstens kann dadurch die Erkenntnis der natürlichen Ordnung innerhalb eines Bereichs vereitelt werden, weil man diesem eine aus einem anderen Bereich schon bekannte Ordnung überstülpt, und zweitens kann die Beziehung zwischen den verschiedenen Bereichen falsch interpretiert werden, indem man eine diesbezügliche Hypothese vorschnell für wahr hält. Das mag beides trivial erscheinen, aber aus goetheanistischer Sicht wimmelt es in der konventionellen Wissenschaft von Beispielen für solche Fehlurteile, die dort nicht als solche erkannt werden.

Selbstverständlich sind auch Goetheanisten nicht gegen Irrtümer gefeit. Und längst nicht alles, was sich “goetheanistisch” nennt, entspricht in jeder Hinsicht dem hier beschriebenen Typischen. So kommt es durchaus nicht selten vor, dass auch in “goetheanistischen” Publikationen eifrig Querbezüge zwischen verschiedenen Phänomenbereichen hergestellt werden, bevor auch nur einer dieser Bereiche gründlich überschaut worden wäre. Die hergestellten Bezüge sind dann halt von anderer Art als in der konventionellen Wissenschaft. Auch das kann man “Goetheanismus” nennen.

Damit kommen wir auf die schon eingangs erwähnte Beliebigkeit beim Gebrauch des Wortes “Goetheanismus” zurück. Nicht selten werden damit Dinge bezeichnet, die mit Goethe und mit Goethes Methodik sehr wenig bis gar nichts zu tun haben. Das hat vor allem historische Gründe. Die Bezeichnung “Goetheanismus” wurde zwar von einem Goethe-Forscher, dem bereits erwähnten Steiner, geprägt, aber in einem ganz anderen Zusammenhang. Steiner wendete sich in späteren Jahren der Esoterik zu und begründete eine eigene Spielart derselben, die Anthroposophie, auf der u.a. die Waldorfschulen basieren. In diesem Zusammenhang versuchte er, eine methodisch an Goethe orientierte Naturforschung anzuregen, und wählte dafür die Bezeichnung “goetheanistisch”. Das wurde jedoch zu seinen Lebzeiten praktisch nicht aufgegriffen, und was dann später in dieser Richtung entstand, hat vielfach eher den Charakter von erläuternden Kommentaren zu anthroposophischen Texten Steiners.

Ein klassisches Beispiel hierfür ist das Buch “Die Pflanze” von Gerbert Grohmann, das ich auf einer eigenen Seite näher bespreche. Darin finden sich Passagen, die in sehr schöner Weise an Goethes botanischen Arbeiten anknüpfen, aber daneben auch ganze Kapitel, denen eine ganz andere Methodik zugrundeliegt. Und diese Methodik ähnelt ironischerweise sehr dem Vorgehen der Reduktionisten, wie sie oben charakterisiert wurde: Grohmann bleibt nicht bei den Phänomenen, die ihm vorliegen, sondern er springt immer wieder zu etwas ganz anderem, nämlich zu anthroposophischen Darstellungen Steiners, um aus diesen die “Erklärung” der Phänomene zu entnehmen.

Was für den reduktionistischen Mainstream in der Naturwissenschaft die Wechselwirkungen von Molekülen oder Elementarteilchen sind, das suchen Grohmann und andere Anhänger Steiners in dessen Vortragswerk: die Offenbarung der “Wirklichkeit”. Die einen meinen, Wirklichkeit nur in der Materie und in Mechanismen finden zu können, die anderen nehmen - methodisch zurückgreifend in die Ära vor der neuzeitlichen Naturforschung - Zuflucht zu einer schriftlichen “Offenbarung”.

Goethe gab weder der einen noch der anderen Versuchung nach, und er zeigte, wie man ohne jenseitige “Erklärungen” der einen oder der anderen Art zu einer befriedigenden Welterkenntnis kommen kann. Das hat gerade Steiner in seinen erkenntnistheoretischen Schriften weiter ausgearbeitet. Es erscheint paradox, dass ausgerechnet dieser Steiner später eine so umfangreiche Offenbarungsliteratur verfasste. Aber diese scheinbare Paradoxie beruht auf einem Missverständnis.

Steiner betrachtete seine Anthroposophie als eine konsequente Fortsetzung des von Goethe begonnenen Weges. In seiner “Philosophie der Freiheit” (1894) erhob er den Anspruch, “nach naturwissenschaftlicher Methode” (im Sinne Goethes) das Seelenleben zu untersuchen. Was er dann später als Anthroposophie entwickelte, sollte wiederum eine Fortführung der “Philosophie der Freiheit” sein, jetzt bezogen auf Erlebnisse, die jenseits des gewöhnlichen Seelenlebens liegen. Wie dieses Unterfangen und seine Resultate zu beurteilen sind, steht hier nicht zur Debatte (siehe die diesbezügliche Seite). Hier möchte ich den Punkt hervorheben, dass Steiner nicht etwa eine methodische Kehrtwendung machte. Auch die Anthroposophie vertrat er als eine Wissenschaft, und er gründete sogar eine “Hochschule”, in der er die Forschung “auf geistigem Gebiet” lehren wollte (wozu es allerdings nur in ersten Ansätzen kam). Eine “Forschung”, die in einer Exegese seiner Schriften nach Art der Theologie besteht, hatte er dabei keineswegs im Sinn. Diese Kehrtwendung vollzogen erst seine Anhänger nach seinem Tod.

Dem “real existierenden” Goetheanismus, wie er unter diesen Umständen entstand (teils “Goetheanismus” genannt, teils auch nicht), habe ich eine eigene Seite gewidmet. Hier soll es ja darum gehen, was man sinnvollerweise “goetheanistisch” nennen könnte. Wo “Naturforschung” betrieben wird, indem man Begriffe - oder oft nur vage Andeutungen - aus Steiners anthroposophischen Publikationen entnimmt und nach diesen dann die Naturphänomene ordnet oder “erklärt”, da ist es eine Verhöhnung Goethes, wenn sein Name dafür in Anspruch genommen wird. Allerdings liegt dem im allgemeinen wohl gar keine “böse” Absicht zugrunde. Man kennt halt Goethes Arbeiten nicht oder nicht recht, und/oder es mangelt an der methodischen Besonnenheit, die Goethe auszeichnete und die ihn davor bewahrte, Naturforschung etwa mit Theologie zu vermengen (was damals durchaus noch üblich war).

Wie erwähnt, gibt es neben einem sogenannten Goetheanismus, der diesen Namen nicht oder nur teilweise verdient, auch Arbeiten, die methodisch eng an Goethe anknüpfen, ohne das besonders hervorzuheben. So hat in der Botanik insbesondere Wilhelm Troll (1897-1978) mit seinen bedeutenden morphologischen Arbeiten Goethes Werk in methodischer Treue fortgesetzt. Da Goethe anerkanntermaßen die Vergleichende Morphologie begründet hatte, brauchte Troll keinen Ismus-Begriff, um sich von etwas anderem abzusetzen. Und auch sonst gibt es weit verbreitet naturwissenschaftliche Arbeiten, die zumindest zu Teilen das Etikett “goetheanistisch” verdient hätten, auch wenn die Autoren daneben ihrer “Pflicht” genügten, reduktionistische Erklärungsmuster wenigstens anzudeuten. Dem nicht mit Goethes Methode vertrauten Leser erscheinen solche Publikationen wie besonders ausführliche Schilderungen. Wie die vermeintlich bloße Schilderung zugleich von einer exakten Begriffsbildung begleitet wird und dadurch das Geschilderte erklärt wird, ohne den Bereich der betrachteten Phänomene zu verlassen, das entgeht dem Leser, der gewohnt ist, dass Erklärungen von woanders her geholt werden.

Ist man einmal darauf aufmerksam geworden, dann kann man im ganzen naturwissenschaftlichen Schrifttum unzählige Beiträge zu einem Goetheanismus finden, die als solche nur herausgeschält werden müssen. Teils sind es exakte Beschreibungen, die eine sinnvolle Ordnung des Beschriebenen enthüllen, welche dem Autor selber vielleicht gar nicht besonders ins Auge gesprungen ist. In anderen Fällen liegen Einzelbeobachtungen in verschiedenen Publikationen verstreut vor, und es bedarf nur einer besonnenen Zusammenschau, um ein goetheanistisches Verständnis zu erreichen. Fast immer wird man das “Brauchbare” von dem reduktionistischen Beiwerk trennen müssen (wobei das Beiwerk durchaus die Hauptmasse ausmachen kann). Auf diese Weise ist heute goetheanistische Forschung in großem Umfang auch als Literaturarbeit möglich und sinnvoll. Ebenso hat auch schon Goethe der Literatur entnommen, was er finden konnte, nur mit dem Unterschied, dass es damals noch sehr wenig naturwissenschaftliche Literatur gab.

Im Unterschied zu dieser (meiner) Auffassung wird mitunter auch die Position vertreten, goetheanistische Forschung dürfe nur das zur Kenntnis nehmen, was der Forscher mit eigenen Sinnen wahrgenommen hat. Begründet wird das letztlich vor allem mit einem tiefen Misstrauen gegen “andersdenkende” Autoren. Und merkwürdigerweise nehmen die selben “Forscher” auf der anderen Seite oft in rückhaltloser Gläubigkeit auf, was sie bei Steiner an vagen Andeutungen finden können.

Sollte man angesichts all dieser Schwierigkeiten nicht besser auf das Etikett “goetheanistisch” verzichten? Ich meine: nein. Man müsste sonst ein anderes Wort erfinden. Und gegen Missverständnisse wäre auch ein anderer Terminus nicht gefeit. Deshalb bleibe ich bei der nun einmal etablierten Bezeichnung.

Es bleibt die Frage, inwiefern Goetheanismus zur Wissenschaft gehört. Goethes Arbeiten gehören historisch dazu, gelten aber als veraltet und mit “Irrtümern” durchsetzt. Was an neueren goetheanistischen Publikationen existiert, “leidet” in Bezug auf eine Anerkennung als wissenschaftlich vor allem unter zwei Mängeln: erstens daran, dass es sich zu großen Teilen scheinbar nur um Beschreibungen handelt, also gar nicht um den Versuch einer wissenschaftlichen Erklärung (vgl. oben), und zweitens an der Vermengung mit Auslegungen anthroposophischer Glaubensinhalte.

Der letztere Punkt ist tatsächlich mit Wissenschaftlichkeit nicht zu vereinbaren. Das Werk Steiners könnte als solches ein Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung sein, aber herausgepflückte Aussagen gehören nicht in naturwissenschaftliche Arbeiten hinein, schon gar nicht als Leitlinien, an denen sich die “Forschung” orientiert.

Dem ersteren Mangel könnte nur durch eine offene Auseinandersetzung begegnet werden. Es müsste klarer herausgearbeitet werden, was die goetheanistische Methode ist und worin sie sich von einem bloßen Beschreiben unterscheidet. Dazu gehört eine wissenschaftstheoretische Untermauerung, wie sie Steiner vor über hundert Jahren begonnen hat, und eine fundierte Kritik des herrschenden Reduktionismus, um die Gleichsetzung seiner typischen (und oft hoch spekulativen) Erklärungsmuster mit “Wissenschaftlichkeit” abzuweisen. Leider sind die etablierten Vertreter des Goetheanismus nicht bereit, sich dieser Auseinandersetzung zu stellen (hier ein besonders prominentes Beispiel), obwohl sie in ihrer kritischen Haltung gegenüber dem Reduktionismus längst nicht alleine dastehen.

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Weiterführende Artikel:

Die Reihe wird fortgesetzt.

Externer Link: eine Liste goetheanistischer Literatur, zusammengestellt von Markus Hari

Einige meiner eigenen “goetheanistischen” Arbeiten finden sich im Archiv

Copyright Klaus Frisch 2004

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