Goetheanismus und Thomas S. Kuhn

Goetheanismus im Licht von Thomas Kuhns “Struktur wissenschaftlicher Revolutionen”

 

Einer der einflussreichsten Wissenschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts war Thomas S. Kuhn (1922-1996). Sein 1962 erschienenes Hauptwerk “The Structure of Scientific Revolutions” (deutsch “Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen”, 1967) hat die seitherige Wissenschaftstheorie entscheidend mit geprägt.

Im Unterschied zu der bis dahin sehr abstrakt-theoretischen Wissenschaftstheorie, die im Werk Karl R. Poppers (1902-1994) ihre prominenteste Zuspitzung erfuhr, wendete Kuhn sich anhand historischer Beispiele der Frage zu, wie Wissenschaft tatsächlich stattfindet. Dabei stellte er fest, dass weder die auf David Hume (1711-1776) zurückgehende Theorie des Induktivismus noch der von Popper formulierte Gegenentwurf des Falsifikationismus zutreffend wiedergeben, wie Wissenschaft funktioniert und wie vor allem wissenschaftlicher “Fortschritt” zustandekommt.

Kuhn ging nicht von theoretischen Konstrukten aus, sondern er versuchte, die historisch vorliegende Entwicklung der Wissenschaft zu verstehen. Insofern könnte man geradezu von einem goetheanistischen Ansatz bei Kuhn sprechen. So weit ich es verfolgen konnte, wurde Kuhns Werk jedoch unter goetheanistischen Naturwissenschaftlern bislang nicht zur Kenntnis genommen. Das ist bedauerlich, weil Kuhn neue Perspektiven eröffnete, wie man das Verhältnis alternativer Ansätze (wie Goetheanismus) zur “Normalwissenschaft” betrachten und beschreiben kann.

Der hiermit eingeleitete Aufsatz verfolgt zwei Ziele: Erstens möchte ich Goetheanisten auf Thomas Kuhn hinweisen und aufzeigen, was sein Werk zum Selbstverständnis des Goetheanismus und zu dessen Vertretung in der Öffentlichkeit beitragen kann. Zweitens möchte ich auch für Aussenstehende meine bisherige Darstellung des naturwissenschaftlichen Goetheanismus durch die von Kuhn eröffneten Perspektiven ergänzen.

 

Was ist wissenschaftlicher Fortschritt?

Die meisten Leute stellen sich den Fortgang der Wissenschaft so vor, dass immer mehr Erkenntnisse angehäuft werden und daneben auch immer mehr Irrtümer ausgemerzt werden. Diese Vorstellung ist in hohem Maß dadurch bedingt, wie Wissenschaft populär dargestellt wird. Aber selbst unter Wissenschaftlern ist diese naive Vorstellung sehr verbreitet und höchstwahrscheinlich auch heute noch, über 40 Jahre nach dem ersten Erscheinen von Kuhns “Structure of Scientific Revolutions”, weit vorherrschend. Denn, wie Kuhn gleich zu Beginn dieses Buches feststellt, die Ausbildung von Wissenschaftlern vermittelt geradezu zwangsläufig ein solches Bild, weil in ihr die Geschichte des jeweiligen Faches nur in Form von Entdeckungen, theoretischen Durchbrüchen sowie der Überwindung von Irrtümern vorkommt.

Auf der Ebene der Wissenschaftstheorie spiegeln sich diese Vorstellungen in den Theorien des Induktivismus und des Falsifikationismus wieder. Der Induktivismus fasst Wissenschaft als die Gewinnung von Wissen aus Erfahrungen auf. Dagegen postulierte Popper, von Wissenschaft solle nur gesprochen werden, wo Behauptungen kritisch überprüft und ggf. widerlegt (falsifiziert) werden.

Kuhn zeigte nun auf, dass das alles nur recht wenig mit dem tatsächlichen Fortgang der Wissenschaft zu tun hat. In Wirklichkeit ist die Wissenschaft weit davon entfernt, einfach immer noch mehr Wissen aus Erfahrungen zu gewinnen und anzuhäufen. Umgekehrt wäre es erst recht wirklichkeitsfremd und impraktikabel, sie auf das Falsifizieren beliebiger Behauptungen (nach dem Vorbild der neodarwinistischen Selektionstheorie) beschränken zu wollen. Und auch eine Kombination von beidem gibt nicht wieder, wie Wissenschaft tatsächlich funktioniert.

 

Das Paradigma

Kuhns wohl zentrale Einsicht besteht darin, dass Wissenschaft zu jeder Zeit irgend welchen Paradigmata unterworfen ist. Was unter dem Wort “Paradigma” genau verstanden sein soll, hat er allerdings nie genau definiert, und es wurde einmal herausgearbeitet, dass er dieses Wort in 22 verschiedenen Weisen gebraucht haben soll. Ihn selber hat es offenbar nicht besonders interessiert, was dieses Wort genau bedeuten möge, also eine exakte Definition anzustreben. Darin liegt er ganz auf einer Linie mit Goethe und Steiner, die von Definitionen ebenfalls wenig bis nichts hielten. Innerhalb einer Theorie mögen Definitionen wichtig sein, aber bei einer vorbehaltlosen wissenschaftlichen Untersuchung irgendeiner gegebenen Realität sollten Worte idealerweise nur Hinweise darauf sein, was ein anderer Betrachter auch vorfinden und denken kann.

Im wissenschaftlichen Alltag wird dieses Ideal natürlich höchst selten realisiert. Kaum ein Wissenschaftler ist je so frei, ein ihm mitgeteiltes Wort anders als innerhalb der wenigen ihm geläufigen Definitionen zu interpretieren. Und damit ist der Blick des geneigten Lesers auf eine der Möglichkeiten gelenkt, wie Paradigmata wirken können.

Zu Beginn kann ein neues Paradigma einfach in einer bahnbrechenden wissenschaftlichen Publikation bestehen. In solch einer Publikation können neue Fragen aufgeworfen sein, die bisher so nicht gestellt wurden. Es kann eine neue, bisher nicht übliche Betrachtungsweise entwickelt werden. Es können Begriffe anders verwendet werden, als es bisher gängig war, und auf diese Weise können Zusammenhänge, die nach den bisherigen Gepflogenheiten - im Rahmen des bisher maßgebenden Paradigmas - nicht als wichtig erachtet wurden, in den Vordergrund rücken. Oft sind es auch neue Methoden des Experiments, der Datenerfassung usw., die ein neues Paradigma ausmachen oder wesentlich zu ihm beitragen.

Wie Alan F. Chalmers in seinem wissenschaftstheoretischen Standardwerk “Wege der Wissenschaft” (5. deutsche Auflage 2001) darlegt, “gehört es zum Wesen eines Paradigmas, sich einer exakten Definition zu widersetzen”. Um mitzuteilen, was man unter einem Paradigma versteht, kann man aber “typische” Paradigmata oder typische Komponenten von Paradigmata beschreiben. Zum Paradigma werden all diese Dinge letztlich durch ihre Rolle im Fortgang der Wissenschaft:

Bei einer etablierten “Normalwissenschaft” ist das Paradigma das “Typische”, woran man erkennt, was zu dieser Wissenschaft gehört und was nicht. Das mag willkürlich erscheinen, ist es aber nicht. Denn zu einer etablierten Wissenschaft gehört, was innerhalb dieser Wissenschaft als zugehörig akzeptiert wird. Und eine Wissenschaft ist dadurch etabliert, dass sie wiederum in ihrem sozialen Umfeld als solche akzeptiert wird. Wie gut oder wie schlecht die Akzeptanz oder Nichtakzeptanz im jeweiligen Fall begründet oder auch nur begründbar ist, darauf kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Das Paradigma wirkt im Sozialen. Und es wirkt zu großen Teilen unbewusst.

 

Krise und Revolution

Neben der Normalwissenschaft, in der weitgehend klare Verhältnisse herrschen, unterscheidet Kuhn den Zustand der Krise und den der (wissenschaftlichen) Revolution. Zur Krise kommt es, wenn aus irgend welchen Gründen das bisherige Paradigma nicht mehr als tragfähig betrachtet wird. Und als Revolution bezeichnet Kuhn den Vorgang, dass das bisher herrschende Paradigma aufgegeben wird und ein neues sich etabliert.

“Normalwissenschaft” ist bei Kuhn also ein (vorübergehender) Zustand, der dadurch gekennzeichnet ist, dass ein bestimmtes Paradigma innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin allgemein anerkannt ist. In dieser Phase der Entwicklung einer Wissenschaft arbeiten die Wissenschaftler wie selbstverständlich im Rahmen des herrschenden Paradigmas, ohne dieses in Zweifel zu ziehen, ja ohne sich seiner gewöhnlich überhaupt bewusst zu sein. Jeder Wissenschaftler “weiss, wie man wissenschaftlich arbeitet”. Dazu gehört z.B. das Unterscheiden “wissenschaftlich sinnvoller” Fragen von solchen, die als nicht sinnvoll betrachtet werden. Dazu gehören bestimmte etablierte Methoden, an sinnvolle Fragen heranzugehen. Dazu gehört die verwendete Begrifflichkeit, die in ihrer Gesamtheit vorgibt, wie ein Wissenschaftler die “Welt” sieht.

Innerhalb der Normalwissenschaft hat der Fortschritt des Wissens zu großen Teilen einen kumulativen Charakter, ergänzt durch das Ausmerzen zeitweiliger Irrtümer oder versuchsweise aufgestellter falscher Vermutungen. Dabei kann auch das Paradigma, das ja nicht streng definiert ist, modifiziert und weiterentwickelt werden.

Wie aus der bisherigen Entwicklung der Wissenschaft zu ersehen ist, kommt es aber immer wieder zu Situationen, in denen der Rahmen, innerhalb dessen eine Fachwissenschaft bisher betrieben wurde, als solcher in Frage gestellt wird, weil bedeutende Probleme aufgetreten sind, deren Lösung innerhalb dieses herrschenden Paradigmas nicht möglich erscheint.

Ein gewisses Maß scheinbar unlösbarer Probleme kann allerdings jede Normalwissenschaft verkraften, ohne dadurch in eine Krise zu geraten. Es gehört zur Routine des normalen Wissenschaftsbetriebs, unerwartete, dem herrschenden Paradigma widersprechende Ergebnisse als unbedeutende Anomalien zu ignorieren, selbst wenn sie in größerer Zahl publiziert werden (hierzu ein Beispiel aus der Biologie). Auch wird im Einzelfall eher ein Fehler im Vorgehen des Wissenschaftlers oder ein widriger Zufall angenommen, als dass die paradigmatischen Voraussetzungen in Zweifel gezogen würden. Das Paradigma selbst steht normalerweise eben nicht zur Debatte.

Ernsthafte Krisen, in denen das allgemeine Vertrauen in das bisherige Paradigma so untergraben wird, dass dieses ernsthaft in Frage gestellt wird, sind deshalb ziemlich selten. Und das ist auch gut und richtig so, denn ansonsten wäre ein produktiver Wissenschaftsbetrieb nicht möglich. Kommt es aber zur Krise, dann wird das bisher weitgehend unbewusste Paradigma selbst zum Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses. Das bisher Selbstverständliche wird jedenfalls zu Teilen angezweifelt, Alternativen werden denkbar, und aus diesen können sich neue paradigmatische Ansätze ergeben, welche mit dem bisherigen Paradigma völlig unvereinbar sind.

Als wissenschaftliche Revolution bezeichnet Kuhn schließlich den Vorgang, dass das bisherige Paradigma im allgemeinen Konsens verworfen wird und ein neues sich an seiner Stelle etabliert.

 

Gibt es ein Paradigma des Goetheanismus?

Kann Kuhns vor Jahrzehnten in der Wissenschaftstheorie revolutionäre Sichtweise auch bei der Betrachtung des Goetheanismus im Bereich der Naturwissenschaften fruchtbar sein? Ich meine, dass allein schon Kuhns Begriff des Paradigmas für das Selbstverständnis des Goetheanismus hilfreich sein kann, weil er in sehr freilassender Weise eine vergleichende Betrachtung verschiedener wissenschaftlicher und auch nicht ganz so wissenschaftlicher Systeme eröffnet.

Man kann nach einem Paradigma des Goetheanismus genau so fragen wie nach dem irgendeiner Wissenschaft oder irgendeiner wissenschaftlichen Richtung in irgendeiner Epoche der Geschichte. Diese Ebene der Betrachtung einzunehmen, könnte erheblich zu einer Entkrampfung im Selbstverständnis des Goetheanismus beitragen. Und man könnte dabei sogar bemerken, dass Kuhns Perspektive sehr eng an entsprechende Ansätze bei Goethe und Steiner anschließt.

Ob man es im Bereich des Goetheanismus überhaupt mit einem Paradigma zu tun hat, das hängt davon ab, wie kohärent Goetheanismus ist. Da ist zunächst zu beachten, dass Goetheanismus in ganz verschiedenen Fachgebieten betrieben werden kann. Wie die konventionelle Botanik ganz anderen Paradigmata unterworfen ist als die Physik, so kann auch eine goetheanistische Botanik kaum mit einer an Goethe orientierten Optik in einen Topf geworfen werden. Zwar haben beide in der Person Goethes einen gemeinsamen Bezugspunkt, aber es sind völlig verschiedene und voneinander unabhängige Schriften Goethes, auf die jeweils Bezug genommen wird.

Eher schon könnten Steiners erkenntnistheoretische Schriften als gemeinsamer paradigmatischer Ansatz aller Fachrichtungen des Goetheanismus in Frage kommen. Darin versuchte Steiner, das Gemeinsame aller naturwissenschaftlichen Arbeiten Goethes herauszuarbeiten. Wie man auch zu diesem Versuch stehen mag, hebt er jedoch die Unterschiede zwischen Physik und Biologie nicht auf. Selbst wenn Steiners Erkenntnistheorie von Goetheanisten beider Fachgebiete als gemeinsame Grundlage ihrer Arbeit akzeptiert sein sollte, müsste doch nach den Paradigmata der goetheanistischen Botanik und der goetheanistischen Optik je für sich gesucht werden. Denn ein Paradigma umfasst weit mehr als nur den kleinsten gemeinsamen Nenner.

 

Gibt es ein Paradigma der goetheanistischen Botanik?

Ich greife hier das Fachgebiet der Botanik heraus, weil auf diesem Feld eine besonders reiche goetheanistische Literatur vorliegt und weil ich diese auch besser kenne als die anderer Fachgebiete.

Hier liegt natürlich nahe, Goethes Schriften zur Botanik, insbesondere seine “Metamorphose der Pflanzen” (1790), zu betrachten. Ist dieses Buch in seiner Wirkung vergleichbar mit den “berühmten Klassikern der Wissenschaft”, anhand derer Kuhn seinen Begriff des Paradigmas einführt, z.B. mit Newtons “Opticks” oder Lyells “Geology”? Die paradigmatische Wirkung dieser Bücher bestand in den Worten Kuhns darin, “für nachfolgende Generationen von Fachleuten die anerkannten Probleme und Methoden eines Forschungsgebietes zu bestimmen. Sie vermochten dies, da sie zwei wesentliche Eigenschaften gemeinsam hatten. Ihre Leistung war neuartig genug, um eine beständige Gruppe von Anhängern anzuziehen, die ihre Wissenschaft bisher auf andere Art betrieben hatten, und gleichzeitig war sie noch offen genug, um der neuen Gruppe von Fachleuten alle möglichen ungelösten Probleme zu stellen.”

In diesem Sinn kann man wohl Goethes Buch durchaus eine paradigmatische Bedeutung zuschreiben - und zwar für die Vergleichende Morphologie der Pflanzen, die Goethe damit begründete. Dieses Teilgebiet der Botanik existiert bis heute als “Normalwissenschaft”, und in ihm ist Goethes “Metamorphose der Pflanzen” als Beginn der eigenen Disziplin, also als paradigmatisches Werk, anerkannt. (Näheres zum historischen Kontext hier.)

Allerdings würde kein konventioneller Pflanzenmorphologe deshalb das Etikett “goetheanistisch” für seine Arbeit in Anspruch nehmen. Goethes Bedeutung für die Pflanzenmorphologie ist nicht so überragend wie etwa diejenige Newtons für die Klassische Physik, Darwins für die Evolutionstheorie oder Mendels für die Genetik. Deshalb ist Goethes Name längst nicht so sehr mit dem der von ihm begründeten Disziplin verbunden, wie es bei den anderen drei Beispielen der Fall ist.

Eine eigenständige “goetheanistische” Pflanzenmorphologie entstand erst im 20. Jahrhundert, weit über hundert Jahre nach dem Erscheinen von Goethes “Metamorphose”. Dieser erhebliche zeitliche Abstand wäre zumindest sehr untypisch für eine paradigmatische Wirkung, zumal das fragliche Werk ja in der Zwischenzeit keineswegs in Vergessenheit geraten war (wie etwa Mendels Arbeit für einige Jahrzehnte). Und tatsächlich war es auch nicht irgendeine Schrift Goethes, die den Anstoß für die speziell “goetheanistische” Richtung gab, sondern der ehemalige Goethe-Forscher und -Herausgeber Rudolf Steiner, der inzwischen die Anthroposophie und auf deren Grundlage die Waldorfpädagogik und die Anthroposophische Medizin begründet hatte.

In diesem Kontext, also in engem Zusammenhang mit praktischen Anwendungen der Anthroposophie, entstand die goetheanistische Botanik - wie überhaupt die goetheanistische Naturwissenschaft. Und als eine erste Antwort auf die Frage nach dem speziellen Paradigma der goetheanistischen Botanik ist hier das Buch “Die Pflanze” von Gerbert Grohmann zu nennen (Erstauflage 1929, ausführlichere Besprechung hier).

Zwar gab es neben Grohmann auch andere Botaniker oder Hobby-Botaniker, die sich bemühten, Steiners Anregung einer goetheanistischen Botanik umzusetzen. Aber deren Publikationen konnten offenbar keine bedeutende Wirkung entfalten und sind heute praktisch vergessen. Nicht so Grohmanns Hauptwerk, das bis 1981 sechs Auflagen erlebte. Wie sehr dieses Buch neuere Publikationen anderer Autoren beeinflusste, ist allerdings im Einzelfall oft schwer nachzuweisen, weil man sich in diesen Kreisen im allgemeinen sehr zurückhält, was das Zitieren von Quellen oder gar die Auseinandersetzung mit relevanten früheren Publikationen anbelangt. Vielfach werden inhaltliche Aussagen oder methodische Gepflogenheiten auch gar nicht auf schriftlichem Weg, sondern nur mündlich weitergegeben. Dennoch ist deutlich, dass Grohmann Vieles erstmals formulierte, was seither in der goetheanistisch-botanischen Literatur verbreitet wieder auftaucht, und dass er auch methodisch Vieles angeregt hat, was heute ohne Nennung seines Namens und oft wohl auch ohne ein Bewusstsein von diesem Ursprung nachgeahmt wird.

Aber dies ist erst eine vorläufige Antwort darauf, ob es ein Paradigma der goetheanistischen Botanik gibt. Denn ein wegweisendes Buch ist nur eine der Formen, in denen ein Paradigma auftreten kann. Gewöhnlich bleibt es nicht bei dieser Form, sondern das Paradigma entwickelt sich weiter. Oder besser gesagt: Es wird weiter entwickelt durch die gemeinsame, wenn auch oft kontroverse Arbeit der mit ihm verbundenen Wissenschaftler.

 

Gehört Goetheanismus zur Wissenschaft?

In der schon erwähnten allgemeineren Version bedeutet “Paradigma” dasjenige, woran man erkennt, was zu einer Wissenschaft gehört und was nicht. Dies setzt einen weitgehenden Konsens unter den Wissenschaftlern der betreffenden Disziplin voraus, der den Beteiligten zwar nicht bewusst sein muss, aber der praktischen Arbeit zugrunde liegt. Dieser Konsens wiederum kann nur zustande kommen, wenn sich eine “Scientific Community” bildet, eine Gemeinschaft von Wissenschaftlern, in welcher ein freier Austausch von Fakten, Ergebnissen, Meinungen usw. stattfindet.

Anders gewendet heisst dies: Von einer Wissenschaft im Kuhnschen Sinne kann nur gesprochen werden, wenn eine Scientific Community existiert, in der ein solcher Konsens herrscht (“Normalwissenschaft”) oder die nach einem einem solchen Konsens strebt (Krise und Revolution). Das mag zunächst als eine willkürliche Definition erscheinen, aber es ist ja nur als Hinweis auf Zustände gemeint, in denen Wissenschaften und ihnen ähnliche Erscheinungen sich im Verlauf ihrer historischen Entwicklung zeitweilig befinden können. Dass es diese verschiedenen Zustände tatsächlich gibt, zeigt der Blick auf die Geschichte der Wissenschaften.

In frühen Phasen einer sich erst noch konstituierenden Wissenschaft ist es typisch, dass die beteiligten Forscher sich schwer bis gar nicht miteinander verständigen können, weil ihnen selbst der Ansatz zu einem gemeinsamen Paradigma noch fehlt. Diesen Zustand bezeichnet Kuhn als Proto-Wissenschaft oder Vor-Wissenschaft. Dabei kann es zu einer Schulenbildung kommen, indem einzelne Personen Anhänger um sich scharen. Eine kohärente Wissenschaft kann sich jedoch erst entwickeln, wenn die Barrieren zwischen den Schulen überwunden werden und man auf einen Konsens hinarbeitet - und sei es zu Teilen auch nur ein Konsens darüber, worin der noch verbleibende Dissens besteht.

Dies ist ein erstes Kriterium dafür, ob man es mit einer Wissenschaft zu tun hat oder (noch) nicht. Unter diesem Kriterium schneidet der Goetheanismus recht schlecht ab, denn von einer goetheanistischen Community, in der man sich über die Grenzen einzelner Schulen hinweg zu verständigen sucht, kann bisher kaum die Rede sein. Ich habe mich selbst als Grenzgänger zwischen solchen Schulen versucht und dabei die Unversöhnlichkeit sehr persönlich erlebt. Selbst scheinbar langjährige Freunde unter den führenden Persönlichkeiten achten bei ihren jeweiligen Anhängern streng auf Linientreue, und wer sich nicht als Anhänger einer ganz speziellen Person bewähren kann, bleibt letztlich für alle nur ein lästiger Rivale.

Unter diesem Gesichtspunkt wären die goetheanistischen Bestrebungen im Bereich der Naturwissenschaften also als proto-wissenschaftlich zu bezeichnen. Eine wissenschaftliche Gemeinschaft müsste sich erst noch etablieren. Dafür wäre erforderlich, dass die maßgeblichen Personen ihre Selbstbezogenheit teilweise überwinden und einen echten Austausch beginnen würden. Ein Medium dafür könnten unabhängige Publikationsorgane sein, die es bisher in diesem Bereich nicht wirklich gibt. Aber auch ohne eine solche Einrichtung könnte man beginnen, aufeinander Bezug zu nehmen, Unterschiede anzuerkennen und diese sachlich zu diskutieren. Auf die Gründe, warum das bisher so schwer fällt, werde ich im nächsten Kapitel eingehen.

Es gibt aber noch ein weiteres Kriterium dafür, was als Wissenschaft gilt und was nicht: die Akzeptanz in der übrigen Wissenschaft und in der sonstigen Öffentlichkeit. Eine solche Akzeptanz wird jedoch von Goetheanisten wie auch von Anthroposophen allgemein bisher kaum angestrebt. Diese Resignation hat, wie der kritische Anthroposoph Lorenzo Ravagli in seinem Aufsatz “Anthroposophische Mythologeme” sehr prägnant dargestellt hat, ganz irrationale Gründe. Man glaubt, von einer “bösen” Welt umgeben zu sein, in der man keine Chance auf eine gerechte Behandlung hat. Im Dritten Reich hat diese Wahrnehmung gestimmt, und auch davor gab es eine sehr handfeste Gegnerschaft, deren größter Erfolg wohl die Vernichtung des ersten, aus Holz erbauten Goetheanums in Dornach in der Neujahrsnacht 1922/23 war.

Inzwischen haben sich die Zeiten jedoch sehr geändert. Esoterische Lehren (wie die Anthroposophie) werden heute nicht nur geduldet, sondern sie erleben seit über zwanzig Jahren einen gewaltigen Boom und werden über alle Medien verbreitet. “Paranormale” Erfahrungen wie etwa die Erlebnisse von Menschen an der Schwelle des Todes (Nahtoderfahrungen) sind heute Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, bei denen auch die Frage diskutiert wird, ob es sich dabei um Belege für ein Leben nach dem (klinischen) Tod handelt, wie es u.a. in der Anthroposophie postuliert wird. Im Vergleich dazu sind die Behauptungen der goetheanistischen “Naturwissenschaftler” geradezu harmlos.

Die diversen Spielarten des Goetheanismus hätten heute durchaus die Möglichkeit, ein breiteres Publikum als nur das engere Umfeld der Anthroposophie anzusprechen. Die dafür nötige Toleranz in der breiten Öffentlichkeit ist längst vorhanden, und ein Interesse für alternative Betrachtungsweisen im Bereich der Naturwissenschaft ist weit verbreitet.

Dass speziell die Verständigung mit den entsprechenden Fachwissenschaftlern im konventionellen Bereich schwierig bis unmöglich ist, entspricht ganz den Erfahrungen in vielen vergleichbaren Situationen, aufgrund derer Kuhn seinen Begriff des Paradigmas bildete. Demnach kann es nicht das Ziel sein, Fachkollegen im konventionellen Bereich von der “Wahrheit” der eigenen Lehre überzeugen zu wollen. Das wird fast immer an der Unvereinbarkeit der Paradigmata scheitern, und selbst ein einzelner “Überläufer”, den es gelegentlich geben mag, wird es sich nicht leisten können, den Boden des Mainstream-Paradigmas zu verlassen.

Es sollte aber möglich sein, goetheanistische Abhandlungen so zu formulieren, dass sie nicht nur bereits überzeugte Anhänger ansprechen. Das würde allerdings voraussetzen, dass man die Sprache und die Denkweise des potentiellen Publikums kennt und daran anknüpfen kann. Und es würde voraussetzen, dass man das überhaupt will. (Siehe hierzu meinen Kommentar zu einem negativen Beispiel.)

Unter diesen Voraussetzungen könnten goetheanistische Ansätze auf den verschiedenen Fachgebieten als “parawissenschaftlich” zur Diskussion gestellt werden. Damit ist gemeint, dass die betreffende Richtung für sich selbst eine wissenschaftliche Arbeitsweise in Anspruch nimmt, dass aber eine allgemeine Anerkennung der Wissenschaftlichkeit bislang nicht erreicht wurde. Typische Parawissenschaften, die auch schon Gegenstand durchaus wohlwollender Dissertationen waren, sind z.B. die Astrologie und die Homöopathie. Auch im Vergleich dazu sind goetheanistische Ansätze eher harmlos. (Siehe hierzu die Website der Gesellschaft für Anomalistik.)

 

Immanente Erschwernisse

Lassen sich besondere Gründe dafür finden, dass die Verständigung unter Goetheanisten bisher so schwierig ist und dass Goetheanisten so sehr dazu neigen, sich auf ein “eingeschworenes” Publikum zu beschränken? Das zum Teil historisch bedingte Sektierertum der Anthroposophen wurde schon erwähnt, aber es lassen sich noch weitere Gründe nennen.

Wie die Erfahrung innerhalb goetheanistischer Kreise immer wieder zeigt, scheitert die Verständigung zwischen den verschiedenen Schulen gewöhnlich schon daran, dass eine sachliche Diskussion kaum gelingt, sondern nach kurzer Zeit in persönliche Angriffe mündet. Deshalb wird eine Verständigung kaum noch angestrebt. Man geht getrennte Wege, so als gebe es die anderen Schulen nicht, und gewöhnlich sieht man die Schuld beim jeweils Anderen.

Tatsächlich handelt es sich aber um ein Problem, das anscheinend alle Beteiligten gemeinsam haben: Es besteht keine ausreichende Distanz zur “Sache”; die Akteure sind als Personen so eng mit ihrer jeweiligen Position verbunden, dass jede Kritik an dieser Position sogleich als persönlicher Angriff empfunden und entsprechend beantwortet wird.

Das mag allgemein für Proto-Wissenschaften charakteristisch sein. Wenn fast jeder Akteur eine andere Position vertritt, dann sind diese Positionen eben eng mit den Personen verknüpft, und es erfordert eine erhöhte Bemühung, Person und Position auseinander zu halten. Zudem kann die berufliche Zukunft der Beteiligten mehr oder weniger davon abhängen, inwiefern es ihnen gelingt, ihrer Position zum “Sieg” zu verhelfen.

Im Falle des Goetheanismus kommen aber noch weitere Erschwernisse hinzu. Erstens stellt jegliche Spielart des Goetheanismus schon vom Grundansatz her die Person des Forschers ins Zentrum, ganz im Unterschied zu dem, was sonst als “wissenschaftlich” gilt. Der goetheanistische Forscher versucht also bei seiner Arbeit nicht, von sich selbst so weit wie möglich abzusehen. Er erkennt sein Involviertsein an und versucht, daraus eine Tugend zu machen. (Siehe hierzu Goethes Kritik an Newton und Steiners Erkenntnistheorie.)

Durch diese immanente Perspektive (Steiner) ist der Forscher als Person zwangsläufig in besonders starkem Maß mit dem verbunden, was er in der Sache vertritt. Es wird dadurch umso schwerer, auch andere Sichtweisen zur Kenntnis zu nehmen und gelten zu lassen. Goethe und Rudolf Steiner, der Erkenntnistheoretiker des Goetheanismus, wussten um diese besondere Schwierigkeit, und beide pflegten umso mehr die Fähigkeit, sich in ganz verschiedene Weltanschauungen hineinzuversetzen. Für Goethe gehörte das schon zu seinem Beruf als Dramatiker. Von Steiner kommen hierzu besonders in Betracht “Die Philosophie der Freiheit” (1894) und “Die Rätsel der Philosophie” (1914), für Kenner der Anthroposophie ausserdem “Der menschliche und der kosmische Gedanke” (1914). Im Grunde handelt es sich nur um eine konsequente Anwendung der Goetheschen Geisteshaltung auch auf der Ebene der Weltanschauungen.

Zweitens wird diese Problematik noch verschärft durch die sehr weit gehende Verquickung des real existierenden Goetheanimus mit Steiners Anthroposophie. Bislang jedenfalls gilt es als geradezu selbstverständlich, dass ein goetheanistischer Naturwissenschaftler zugleich auch ein gläubiger Anhänger der Anthroposophie ist. Das wäre an sich nichts Ungewöhnliches, denn bekanntlich sind auch sehr viele Naturwissenschaftler gläubige Christen oder Anhänger einer anderen Religion.

Aber während die etablierten Naturwissenschaften sich sehr weitgehend von ihren Ursprüngen bei der Theologie emanzipiert haben und streng darauf achten, alles Religiöse fernzuhalten, kann man den naturwissenschaftlichen Goetheanismus, wie er sich bisher entwickelt hat, fast als ein Teilgebiet der Anthroposophie betrachten. Es ist völlig normal, dass in goetheanistischen Publikationen auch Aussagen der Anthroposophie auftauchen, und diese werden dann durchweg als gesicherte Erkenntnisse behandelt. Auch ist es durchaus üblich, stillschweigend oder explizit Begriffe aus der Anthroposophie zu übernehmen und diese dann durch naturwissenschaftliche “Tatsachen” nur noch zu veranschaulichen. Entsprechend gibt es einen fließenden Übergang zwischen “Goetheanismus” und “anthroposophischer Naturwissenschaft”.

Diese Verquickung stellt schon für sich allein ein gravierendes methodisches Problem dar. Zugleich aber verschärft sie das hier angesprochene Problem der mangelnden Distanz zwischen Forscher und Erforschtem. Denn Anthroposophie tritt nicht nur als eine Lehre auf, sondern auch als ein individuell begehbarer Weg zu eigenen “übersinnlichen” Erkenntnissen, anknüpfend an der immanenten Perspektive, die Steiner zunächst für den naturwissenschaftlichen Goetheanismus dargestellt hatte. Diese “geistige Forschung” spielt sich ganz im inneren Erleben des Forschers ab, und im Unterschied zur Mathematik, für die das ja auch weitgehend zutrifft, scheint sie kaum formalisierbar zu sein. Das macht den Aufbau einer Scientific Community noch wesentlich schwieriger als im Bereich des Goetheanismus. (Näheres zu den tatsächlichen Verhältnissen hier.)

Damit verbunden sind noch weitere spezifische Hemmnisse, wie sie Ravagli in seinem schon erwähnten Aufsatz “Anthroposophische Mythologeme” sehr treffend beschrieben hat.

 

Proto-Wissenschaft - oder luziferische Esoterik?

Wir haben also festgestellt, dass der naturwissenschaftliche Goetheanismus bislang nicht die Voraussetzungen erfüllt, um als wissenschaftlich anerkannt werden zu können, und wir haben einige der immanenten Gründe dafür betrachtet.

Man kann darüber die Achseln zucken, weil man gar keinen Wert auf eine solche Anerkennung legt. Das ist tatsächlich eine verbreitete, anscheinend sogar die vorherrschende Haltung unter Vertretern des Goetheanismus. Man will gar nicht Teil der Wissenschaft werden, weil man die etablierte Wissenschaft mehr oder weniger ablehnt und meint, allein einen erkennenden Zugang zur “Wirklichkeit” zu haben, während die etablierte Wissenschaft so sehr in Irrtümern befangen ist, dass man sich besser gar nicht mit ihr befasst. In einer abgeschwächten Version ist man zwar bereit, faktische Ergebnisse der konventionellen Wissenschaft zu übernehmen und in die eigene Ideenwelt zu integrieren, zugleich bleibt man aber darauf bedacht, sich von jener Wissenschaft abzugrenzen und Goetheanismus nur im Kreis seiner Anhänger zu pflegen - einen Goetheanismus nur für Anthroposophen sozusagen.

Dieses Sektierertum ist nicht nur - wie erwähnt - historisch bedingt, sondern es entspringt offenbar auch einem starken Bedürfnis, sich von der allgemeinen Menschheit abzusondern und nach Erkenntnissen nur für sich selbst oder für eine eingeschworene Gemeinschaft Gleichgesinnter zu suchen. Das ist legitim - wie andere esoterische Richtungen auch.

Aber Goetheanismus kann mehr sein oder werden als nur eine Art Geheimwissenschaft. Die Anfänge bei Goethe und Steiner hatten keinen sektiererischen Charakter, sondern wendeten sich an ein breites Publikum. Zu ihrer Zeit fanden sie nur ein geringes Interesse in der Öffentlichkeit. Aber seit einigen Jahrzehnten hat sich die Erwartungshaltung erheblich geändert. Viele Menschen suchen nach Alternativen bzw. nach einer Erweiterung des herkömmlichen Weltbildes. Goetheanismus ist eine solche Erweiterung im Bereich der Naturwissenschaft. Aber bisher hat er es nicht verstanden (bzw. kaum angestrebt), ein breites Publikum anzusprechen.

Das selbe Phänomen kann man auch bei der Anthroposophie konstatieren. Man begegnet zahlreichen Menschen, die schon Einiges von Steiner gelesen haben, und noch sehr viel mehr Menschen, die Fragen haben, mit denen sich Steiners anthroposophisches Werk befasst. Aber der wesentlich kleinere Kreis der bekennenden und organisierten Anthroposophen ist wenig bis gar nicht offen für Menschen, die keine gläubigen Anhänger sein wollen.

Man könnte (als Aussenstehender) auch hier wieder vermuten, dieses Sektiererische sei durch die Lehren Steiners bedingt. Aber das ist keineswegs der Fall. Steiners Anthroposophie war so wenig sektiererisch gemeint wie der Goetheanismus, den er anregen wollte. Er unterschied in diesem Zusammenhang drei Richtungen, von denen zwei auf Abwege führen, während die dritte Richtung den goldenen Mittelweg darstellt.

Sektierertum, zumal verbunden mit Hochmut und Schwärmerei, ist charakteristisch für den “luziferischen” Abweg. Auf diesem Weg will man sich aus egoistischen Motiven von der allgemeinen Menschheit ablösen. Der anthroposophische Schulungsweg, wie Steiner ihn als Weg zu eigenen übersinnlichen Erkenntnissen beschrieben hat, kann diese Tendenz massiv verstärken, wenn man dem nicht durch entsprechende Maßnahmen (die leider wenig beachtet werden) vorbeugt. Als entgegegesetzte Gefahr beschrieb Steiner ein Abgleiten ins “Ahrimanische”, und das ist in vielen Fehlentwicklungen der konventionellen Wissenschaft und insbesondere der Naturwissenschaft zu beobachten. Da wird konsequent vom Menschen abgesehen, so als gebe es ihn gar nicht - weder als Forscher noch als Betroffener der Folgen der Wissenschaft. Da wird abstrahiert, formalisiert, alles auf möglichst einfache Mechanismen reduziert und damit abgetötet und entseelt.

Als dritten Weg, als einen Mittelweg, der ein Abgleiten in die eine wie in die andere Richtung vermeidet, entwarf Steiner das Ideal einer “christlichen” Wissenschaft. Diese sieht nicht vom Menschen ab, sondern stellt ihn als Erkennenden in den Mittelpunkt (immanente Perspektive). Zugleich erlebt sich dieser Erkennende aber auch als Teil der ganzen Menschheit, der nicht für sich selbst, sondern für die Menschheit nach Erkenntnis strebt. Deshalb liegt ihm eine Sektenbildung ebenso fern wie etwa Poppers Konstrukt einer “Erkenntnis ohne erkennendes Subjekt”.

Historisch lässt sich das Sektierertum der Anthroposophen (und damit der Goetheanisten) noch weiter zurück verfolgen: Es beherrschte bereits die Theosophische Gesellschaft (später: Anthroposophische Gesellschaft), als Steiner im Jahr 1900 zu ersten Vorträgen in diesen Kreisen geladen wurde. Zugleich ist es aber auch die Folge einer übertriebenen Abwehrhaltung gegenüber dem Ahrimanischen in der konventionellen Wissenschaft: Nicht nur der einseitige Materialismus, Formalismus und Reduktionismus wird abgelehnt, sondern mehr oder weniger “die Wissenschaft” überhaupt. Dann bleibt nur noch die Flucht in eine Art Glaubensgemeinschaft.

Steiners Versuch, aus dieser Glaubensgemeinschaft ein tragendes Umfeld für sein Forschungsprojekt “Anthroposophie” zu machen, ist bereits zu seinen Lebzeiten gescheitert (Näheres hier). Paradoxerweise existiert die von ihm in diesem Zusammenhang gegründete “Hochschule” dennoch bis heute, neben zahlreichen Schriften von ihm selbst und von anderen Autoren, in denen ausdrücklich ein wissenschaftlicher Anspruch erhoben wird. Dazu gehört auch die goetheanistische Literatur, insofern sie (wie ganz überwiegend) in anthroposophischen Zusammenhängen entstanden ist und publiziert wurde.

Es ist aber nicht unumgänglich, dass der Goetheanismus in der Falle des Sektierertums gefangen und damit für die übrige Menschheit schwer bis gar nicht zugänglich bleibt. Alle Mitwirkenden sollten sich selbst befragen, ob sie ihren Goetheanismus in einem christlichen oder in einem luziferischen Sinn pflegen wollen. Die beliebte Ausrede, die böse ahrimanische Umwelt zwinge ja geradezu zur Abschottung, ist längst nicht mehr begründet. Man kann sie nur für begründet halten, wenn man z.B. Thomas Kuhns hier referiertes Buch und dessen Folgen nicht zur Kenntnis genommen hat.

 

Zukunftsperspektiven

Ein Goetheanismus, der für die allgemeine Menschheit da sein will, wird sich auch zur allgemein-menschheitlichen Wissenschaft in ein Verhältnis setzen müssen. Das bedeutet nicht, dass er sich irgendwelchen Dogmen dieser oder jener wissenschaftlichen Richtung unterwerfen müsste. Aber er müsste an sich selbst Maßstäbe anlegen lassen, die aus guten Gründen zur Unterscheidung von Wissenschaft, Proto-Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft entwickelt wurden. Denn je nachdem, wie diese Einordnung ausfällt, wird sich auch die Wahrnehmung in der kritisch-interessierten Öffentlichkeit ändern.

Kuhns Unterscheidung von Wissenschaft und Protowissenschaft ist keine beliebige Definition, sondern eine bei der Betrachtung der Wissenschaftsgeschichte entwickelte begriffliche Unterscheidung. Es bedarf eben gewisser Voraussetzungen, damit etwas, das mit wissenschaftlichem Anspruch auftritt, auch als wissenschaftlich anerkannt werden kann. Dazu gehört die Ausbildung einer Scientific Community, in der man sich über verschiedene Positionen, Ansichten und Ergebnisse verständigt, auch wenn diese zunächst schwer bis gar nicht miteinander zu vereinbaren sind. Eine solche Community wird, wenn sie halbwegs funktioniert, einem allseitigen Konsens zustreben. Und sei es zum Teil einfach ein Konsens darüber, worin genau der Dissens zwischen den verschiedenen Fraktionen besteht. Auch dafür gibt es ja Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte.

Jedenfalls wird eine “Wissenschaft” nicht erwarten können, ernst genommen zu werden, wenn ihre Vertreter kaum in der Lage oder nicht einmal willens sind, sich über die Grenzen zahlreicher kleiner Lager hinweg ernsthaft miteinander zu verständigen. Woran sollte sich der interessierte Aussenseiter auch halten, wenn ihm diverse Lehrmeinungen entgegentreten, die nicht einmal in dem negativen Sinn miteinander vernetzt sind, dass sie wenigstens die Meinungsverschiedenheiten erkennbar herausgearbeitet hätten?

Zu den Grundanforderungen an eine wissenschaftliche Arbeit gehört es deshalb, dass man zitiert und diskutiert, was bisher von Anderen zu der betreffenden Fragestellung schon publiziert wurde, - gerade auch dann, wenn es der eigenen Meinung oder den eigenen Ergebnissen widerspricht. Wir haben einige der Gründe betrachtet, warum das unter Goetheanisten besonders schwierig ist. Dass es schwierig ist, kann aber keine Entschuldigung dafür sein, dass es vielfach nicht einmal versucht wird.

Wer nur sein eigenes Weltbild ausbauen will und sich für andere Anschauungen und abweichende Ansätze nicht interessiert, der mag vielleicht einen passablen Guru abgeben, aber als Wissenschaftler hat er ein Problem. In einer etablierten Normalwissenschaft (s.o.) mag für solche “Handwerker” Verwendung sein, im Zustand der Proto-Wissenschaft kommt es hingegen gerade auf die Diskursfähigkeit und auf die Fähigkeit der distanzierten Betrachtung auch der eigenen Position an. Und wenn Einzelne ihre ganze Energie darin investieren, einen bestimmten Ansatz, eine bestimmte Methode oder sachliche Position möglichst weit zu entwickeln, dann ist es umso wichtiger, dass Andere diese isolierte Arbeit wieder in ein Verhältnis zum übrigen Geistesleben bringen.

Dieser Aufbau einer wissenschaftlichen Community ist ein soziales Projekt. Dazu gehört die Schaffung geeigneter Institutionen oder auch die Umwidmung bestehender. Insbesondere bedürfte es der Bereitstellung von Publikationsmöglichkeiten, die nicht an bestimmte Schulen gebunden sind und die zugleich geeignet sind, in den diversen Schulen ihre Leser zu finden, damit überhaupt ein Diskurs in Gang kommt. Aber vielleicht bin ich da zu optimistisch. Vielleicht kann die notwendige Community gar nicht aus dem bisherigen Sektierertum hervorgehen, vielleicht müsste sie zusätzlich von neu hinzukommenden Menschen gebildet werden, von Menschen, die eben nicht Anhänger eines Gurus werden wollen und deshalb unter den bisherigen Verhältnissen keinen Anschluss finden konnten.

Natürlich hat dieses Projekt auch einen wirtschaftlichen Aspekt. Wissenschaftliche Arbeit kostet Geld. Bisher steht für goetheanistische Arbeiten nur sehr wenig Geld zur Verfügung, weil nach dem, was bisher als Goetheanismus existiert, nur eine sehr geringe Nachfrage besteht. Würde es gelingen, den Goetheanismus aus seinem proto-wissenschaftlichen Status herauszuführen, dann würden sich auch weitere Forschungsmittel erschließen. So lange das nicht der Fall ist, sollte bei der Vergabe und Verwendung der geringen Mittel auch mit bedacht werden, inwiefern die betreffenden Projekte zur Verwissenschaftlichung des Goetheanismus beitragen oder aber nur dem weiteren Ausbau einer sich abkapselnden Zelle um einen Guru dienen.

Vor allem aber kommt es bei diesem Projekt auf die mitwirkenden Personen an. Diese müssen natürlich wissenschaftlich qualifiziert sein. Sie müssen zudem goetheanistisch arbeiten können - in mindestens einer der kursierenden Bedeutungen dieser Worte. Und sie sollten in der Lage sein oder sich in die Lage versetzen können, endlich mit der Überwindung der bestehenden Barrieren zwischen den Keimzellen einer künftigen Community zu beginnen. Gerade das letztere war bisher, soweit ich das verfolgen konnte, eine ausgesprochen unerwünschte Eigenschaft von potentiellen Mitarbeitern in einschlägigen Institutionen.

 

Durchgesehen und geringfügig korrigiert: 5. 1. 2006

Copyright Klaus Frisch 2004

[Homepage] [Was ist neu?] [Goetheanismus] [Anthroposophie] [Waldorf] [Segregation] [Archiv] [Gedrucktes] [Schad lügt!] [Autor]