Der Mythologeme dritter Teil

 

Zu den folgenreichsten goetheanistisch-naturwissenschaftlichen Publikationen der letzten Jahrzehnte gehören zwei Aufsätze von Jochen Bockemühl aus den Jahren 1966 und 1967 über die Entwicklung der Blätter höherer Pflanzen (siehe Literaturliste am Ende dieser Seite).

Darin knüpft Bockemühl an die vergleichend-morphologischen Arbeiten Goethes an. Während Goethe (1790) aber die fertig ausgebildeten Blätter einer Pflanze miteinander verglich und die Reihe ihrer Gestalten als “Metamorphose” beschrieb, betrachtet Bockemühl auch die Entwicklung des einzelnen Blattes von der noch undifferenzierten Blattanlage aus. Dabei unterscheidet er vier charakteristische “Bildebewegungen”: Zunächst sprießt ein kleines Spitzchen aus dem undifferenzierten Vegetationspunkt hervor, dann gliedern sich weitere Spitzchen ab, bald setzt durch flächige Ausdehnung die Bildung der Spreite ein, und schließlich bildet sich der Stiel, der die Blattspreite von der Sproßachse sondert. Sprießen, Gliedern, Spreiten und Stielen - diese Bildebewegungen bringen die fertige Blattgestalt hervor.

Nach der Darstellung Bockemühls sollen diese vier Bildebewegungen auch zeitlich in der genannten Reihenfolge auftreten, wenn auch einander überlappend. Näher belegt wird diese Behauptung nicht, nur an Beispielen veranschaulicht. Das ist deshalb bemerkenswert, weil Bockemühl selbst und diverse andere Autoren weitreichende Folgerungen auf diese Behauptung stützen. So mündet Bockemühls Darstellung im zweiten der genannten Aufsätze in grundlegende Aussagen über das “Wesen der Zeit”, worin er gewisse Äußerungen Rudolf Steiners quasi botanisch “bestätigt”. Andere Autoren dehnten Bockemühls Betrachtungen auf die Evolution der Pflanzen aus (z.B. Suchantke 1990) und übertrugen sie auf andere Organismen bis hin zum Menschen (z.B. Schad 1985).

All diese Publikationen sind sehr interessant, und ihre Implikationen erscheinen bahnbrechend. Ich hatte schon länger vor, sie hier auf meiner Website ausführlicher zu referieren, damit ihre wesentlichen Inhalte auch im Internet zugänglich sind. Aber die ganze Angelegenheit hat einen bedeutenden Makel: Bockemühls Darstellung der Bildebewegungen bei der Entwicklung des Einzelblatts ist nicht ordentlich dokumentiert, und sie wurde anscheinend auch nie entsprechend repliziert. Seine Methode, fertig ausgebildete Blätter miteinander zu vergleichen, also Goethes Ansatz mit etwas moderneren Mitteln (Photographie) weiter zu “pflegen”, hat Schule gemacht und wird in verschiedenen Zusammenhängen seit Jahrzehnten eifrig betrieben (während meines Zivildienstes an einer einschlägigen Forschungseinrichtung mußte ich deshalb viele Stunden in der Dunkelkammer verbringen). Seine knappe, eher aphoristische Beschreibung der Entwicklung des einzelnen Blattes dagegen wird nur immer wieder zitiert.

Warum das so ist, mag verschiedene Gründe haben, die ich nicht genauer bestimmen kann. Zweifellos herrscht in den betreffenden goetheanistisch-anthroposophischen Kreisen eine starke Abneigung gegen den Gebrauch des Mikroskops. Man beschränkt sich gern auf die umittelbare Anschauung und möchte auf derartige Hilfsmittel verzichten. (Was allerdings paradoxerweise nicht dagegen zu sprechen scheint, anstelle der Blätter, wie sie an der Pflanze erscheinen, nur photographische Abbilder abgetrennter Blätter zu betrachten, die zudem noch künstlich nach gewissen Schemata angeordnet sind.) Dazu kommt eine entsprechende Abneigung gegenüber zeitgenössischer konventioneller Fachliteratur, der man möglicherweise erhellende Beobachtungen oder auch nötige Korrekturen der eigenen Ansichten entnehmen könnte. Mich hat es jedenfalls nicht gewundert, daß die etwa zeitgleich zu Bockemühls Darstellung entstandene, aber wesentlich gründlichere Arbeit meines früheren Botanik-Professors Wolfgang Hagemann (1970) in diesen Kreisen nicht zur Kenntnis genommen wurde.

Umso überraschender war es deshalb, ausgerechnet in der Zeitschrift “Elemente der Naturwissenschaft”, die von Bockemühls Institut herausgegeben wird, eine kritische Betrachtung seiner früheren Darstellungen unter ausdrücklicher Berufung auf Hagemann publiziert zu finden (Schilperoord 2002). Zwar etwas versteckt und im Titel nicht gerade deutlich, aber immerhin: Bockemühls Behauptung wird kritisch hinterfragt - und nicht bestätigt!

Schilperoord weist darauf hin, daß die von Bockemühl behauptete feste Reihenfolge der Bildebewegungen schon früher in ähnlicher Weise von dem Botaniker Wilhelm Troll postuliert worden war, und zwar in einem Buch, das Bockemühl in anderem Zusammenhang zitierte. Hagemann hatte sich nun zur Aufgabe gemacht, dieses Postulat seines Lehrers Troll zu überprüfen, und er mußte es verwerfen. Schilperoord zieht daraus die Konsequenzen für das etwas abweichend formulierte Postulat Bockemühls, und er faßt zusammen: “Für die verschiedenen Bildungsmodi gibt es keine zeitlich fixierte Reihenfolge. (...) Die von Bockemühl bei mehreren Pflanzen festgestellte Reihe ist eine von mehreren Möglichkeiten.” (Schilperoord 2002)

Wird diese Publikation Folgen haben? Für ihren Autor vielleicht (so macht man sich Feinde), in der Sache aber wohl kaum. In den beiden folgenden Heften der selben Zeitschrift meldeten sich zwar die beiden Autoren zu Wort, die in eigenen Publikationen am ausgiebigsten an Bockemühls fraglicher Darstellung anknüpften und auf diese aufbauten: Wolfgang Schad und Andreas Suchantke. Aber Schad äußert sich da nur zu einer früheren Publikation Schilperoords, und Suchantke wiederum reagiert auf Schad, wobei er einmal mehr Bockemühls hier thematisierte Behauptung als vermeintliche Tatsache zitiert und mit den Worten schließt: “Es wäre zu wünschen, daß die bedeutsamen Entdeckungen Bockemühls vermehrt als Anregung zu weiteren Arbeiten aufgegriffen würden.” (Suchantke 2003)

Die kritische Überprüfung eines vielzitierten Postulats bleibt folgenlos, selbst wenn sie negativ ausfällt und (was oft nicht der Fall ist!) dennoch publiziert wird. Das ist zwar keine Besonderheit der goetheanistisch-anthroposophischen Verhältnisse, sondern allgemein typisch für den Fortgang der Wissenschaften, wie Thomas Kuhn (1967) und andere aufgezeigt haben. Aber hier kommt als spezifischer, den Dogmatismus fördernder Faktor noch ein außerordentlicher Hang zur Verehrung von Personen hinzu. Kuhn beschrieb, daß Irrlehren nicht durch ein Umdenken ihrer Anhänger aus der Welt geschafft werden, sondern erst dadurch, daß diese Anhänger aussterben. Wo sich jedoch Schulen bilden, die ihren jeweiligen Meister auch nach dessen Tod noch verehren und seine Lehren “pflegen”, anstatt sie auch einmal zu hinterfragen, da ist es um das Verschwinden von Irrtümern schlecht bestellt.

Noch allerdings hätte Bockemühl selbst Gelegenheit, Kuhn im Einzelfall quasi zu widerlegen, indem er zu dem Aufsatz Schilperoords und insbesondere zu der Arbeit Hagemanns Stellung nehmen würde. Das wäre in Bezug auf Hagemann zwar um 30 Jahre verspätet, aber noch wäre es nicht zu spät. Wie im neuesten Heft der “Elemente” berichtet wird, fand vor wenigen Monaten in Schads Institut ein Arbeitstreffen zum hier angeschnitteten Themenkomplex “Typus in der Botanik” statt, an dem auch Hagemann und Schilperoord aktiv teilnahmen (Richter und Schad 2003). Gelegenheiten zum Austausch sind also da. Aber alle meine Erfahrung spricht dagegen, daß man sie im Dienste der Wahrheitsfindung nutzen wird. Zu Vieles ruht auf diesem Postulat Bockemühls. Selbst wenn er im intimen Gespräch einräumen würde, daß er eigentlich selber nie entsprechende mikroskopische Untersuchungen angestellt hat, sondern lediglich das entsprechende Postulat Trolls etwas anders, zum übrigen Gedankengebäude “passender” formuliert hat, - selbst dann würde man (nach all meiner Erfahrung auch mit viel weniger folgenschweren Korrekturversuchen in diesen Kreisen) einfach auf den gewohnten Vorstellungen beharren, sie weiter ausbauen und verbreiten. (Siehe meine Darstellung vergleichbarer Fälle in der Physiologie der Leber und bei Mondrythmen.)

Die Stimmigkeit des großen gedanklichen Zusammenhangs (“Idee”) wird als “Beweis” seiner Richtigkeit und Wahrheit erlebt. Was interessieren da mikroskopische Details?

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Fortsetzung: Goetheanismus nur für Anthroposophen?

Literatur:

Bockemühl, J.: Bildebewegungen im Laubblattbereich höherer Pflanzen. / Äußerungen des Zeitleibes in den Bildebewegungen der Pflanze. Elemente der Naturwissenschaft 4 (1966): 7-23, und 7 (1967): 25-30. Abgedruckt bei Schad 1982.

Goethe, J.W.: Die Metamorphose der Pflanzen. 1790.

Hagemann, W: Studien zur Entwicklungsgeschichte der Angiospermenblätter. Bot. Jb. 90 (1970): 297-413.

Kuhn, T.S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 1967.

Richter, R. und Schad, W.: Zum Typusbegriff in der Botanik. Elemente der Naturwissenschaft 79 (2003): 115-122.

Schad, W.: Goetheanistische Naturwissenschaft, Bd. 2: Botanik. 1982.

Schad, W.: Gestaltmotive fossiler Menschenformen. In: Goetheanistische Naturwissenschaft, Bd. 4: Anthropologie. 1985.

Schilperoord, P.: Zum Typus des Blattes. Laubblattmetamorphose, Gegenläufigkeit und Verjüngungstendenz, eine kritische Analyse. Elemente der Naturwissenschaft 76 (2002): 61-72.

Suchantke, A: Die Metamorphose der Pflanzen. Ausdruck der Verjüngungstendenzen in der Evolution. Die Drei 60 (1990): 514-539.

Suchantke, A: Nochmals: Evolution durch Retention? Elemente der Naturwissenschaft 78 (2003): 194-196.

 

Copyright Klaus Frisch 2003

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