Der Name Waldorf

Woher stammt eigentlich der Name “Waldorf”?

 

Zur Abwechslung mal etwas Kurzweiliges. Dass der Name der Waldorfschulen von der einstigen Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart stammt, ist in Waldorfkreisen allgemein bekannt. Aber woher hatte diese Fabrik den Namensteil “Waldorf”? Wie ich erst letztes Jahr bei meiner zeitweiligen Tätigkeit als Zeitungszusteller “entdeckte”, lässt sich seine Herkunft über einige Stationen bis in meinen Nachbarort Walldorf (südlich von Heidelberg) verfolgen. Und diese Stationen sind so interessant, dass ich sie gerne schildern möchte.

Einer beliebten Übung in Waldorfkreisen (bei Anthroposophen) folgend, werde ich versuchen, dies in zeitlich zurückgehender Reihenfolge zu tun, so weit das den Fluss der Schilderung nicht zu sehr beeinträchtigt.

Die Waldorfschulen haben bekanntlich ihren Namen von der ersten Waldorfschule, die 1919 in Stuttgart gegründet wurde. Diese wiederum wurde nach der Fabrik benannt, für deren Arbeiterkinder sie anfangs gedacht war. Woher aber hatte diese Fabrik ihren Namen?

In New York gibt es bekanntlich ein berühmtes Super-Luxus-Hotel gleichen Namens. In beiden Fällen geht der Name auf die schwerreiche Unternehmerfamilie Astor bzw. Waldorf Astor zurück. Als 1906 die Zigarettenfabrik in Stuttgart gegründet wurde, war ihr Name bereits durch das Hotel in New York bekannt, und er stand hier wie dort für ein besonders “gehobenes Niveau” zu einem entsprechenden Preis.

Wie ich einer etwas vagen Formulierung im Internet entnehmen konnte, entstand die Zigarettenfabrik anscheinend als Teil des weitverzweigten Handels- und Wirtschaftsimperiums der Astors, und anders wäre es wohl auch kaum zu erklären, wie sie diesen renommierten Markennamen erhalten konnte.

Seinen Ursprung hat der Name “Waldorf = Astoria” (korrekt geschrieben mit einem Gleichheitszeichen) jedoch in New York, in der etwas komplizierten Entstehungsgeschichte des Hotels. Dieses entstand nämlich aus zwei zunächst unabhängigen, aber benachbarten Hotels, die zwei zeitweilig verfeindete Mitglieder der Familie gegründet hatten und später miteinander verbanden. Dabei war das Astoria das jüngere, das neben dem bereits bestehenden Waldorf entstand.

Woher aber hatte das Waldorf seinen Namen? Es war der Beiname seines Gründers, William Waldorf Astor (1848-1919), und als solcher geht er wiederum zurück auf den Geburtsort von Williams Großvater, Johann Jakob Astor (1763-1848), dem die Familie ihren immensen Reichtum verdankte. Das Bindeglied zwischen Astor und “Waldorf” ist also die Lebensgeschichte dieses Großvaters. Hier will ich nun die Übung der Rückschau nicht weiter strapazieren und diese Biographie in groben Zügen vom Anfang her wiedergeben.

Johann Jakob wurde 1763 als Sohn eines Metzgers in dem damals armen Dörfchen Walldorf bei Heidelberg geboren. Wie viele junge Menschen damals entfloh er der Not, indem er auswanderte. Zunächst ging er nach London zu einem Onkel, bald aber zog es ihn nach New York, wo er 1783 im Alter von 20 Jahren anlangte.

Nach manchen Schilderungen kam John, wie er sich inzwischen nannte, praktisch mittellos nach NY und arbeitete sich vom Straßenfeger zum superreichen Unternehmer hoch. Anderen Darstellungen ist zu entnehmen, dass er wohl doch schon ein Startkapital von seinem Onkel mitbrachte. Jedenfalls besaß er bald einen Laden für Musikalien (Noten von Musikstücken), und 1786 sattelte er auf den damals äusserst lukrativen Pelzhandel um, womit er schnell ein Vermögen verdiente.

Johns Geschäftsidee bestand darin, nicht in seinem Laden in New York auf Pelzlieferungen zu warten, sondern selber zu den Pelztierjägern in der noch wenig erschlossenen Wildnis zu gehen und den Handel mit ihnen zu organisieren. Dabei ging er so geschickt - oder auch skrupellos - vor, dass er bald in weiten Gegenden eine Art Handelsmonopol errichtet hatte. In diesem Zusammenhang gehörte er zu den aggressivsten Antreibern des “Wegs nach Westen”, der “Erschließung” immer weiter im Westen liegender Gebiete. Eine seiner Strategien war es, den Indianern im Austausch gegen Pelze Alkohol zu verkaufen, was wohl oft sehr förderliche Auswirkungen auf die Preisgestaltung gehabt haben dürfte. Ab 1801 konnte er sich zudem seine guten Beziehungen zum neuen Präsidenten Thomas Jefferson zunutze machen, der ebenfalls stark an einer Ausdehnung des Gebiets der noch jungen USA und ihrer Einflusssphäre interessiert war.

So gelang es John Jacob Astor, sein Handelsimperium bis hinüber zum Pazifik auszudehnen, wo er 1811 an der Mündung des Columbia River die Handelsstation Astoria gründete - heute eine Partnerstadt seines Heimatortes Walldorf. Aber auch der Pazifik sollte Astors Drang nach Westen nicht aufhalten. Von hier aus galt es nun, den Pelzhandel nach China aufzubauen, im Austausch gegen Tee. Astor legte sich Schiffe zu und wurde Reeder. Irgendwann entstanden dann auch erste Hotels, aus denen allmählich eine ganze Kette werden sollte. Die Krönung seines Lebenswerks, durch die er einen für damalige Verhältnisse unerhörten Reichtum ansammeln konnte, waren aber sehr erfolgreiche Grundstücksspekulationen im Geburtsort seines Imperiums, New York, und insbesondere in Manhattan. So gelangten einige der exklusivsten Adressen ganz Amerikas in den Besitz der Familie Astor.

John Jacob starb am 29. März 1848 in New York. Nur zwei Tage später wurde ebendort sein Enkel William Waldorf geboren, der später einmal auf einem dieser Grundstücke das Hotel Waldorf errichten sollte. Dass der Enkel diesen Beinamen erhielt, passt gut zu der großzügigen Spende, die John Jacob seinem Heimatdorf vermachte. So gehört der Name Waldorf mit zu seinem Vermächtnis.

William Waldorf Astor starb übrigens am 18. Oktober 1919 in seiner Wahlheimat England, wenige Wochen nach der Eröffnung der Ur-Waldorfschule in Stuttgart, die, wie wir gesehen haben, indirekt nach ihm benannt ist. Sein Neffe John Jacob IV., der den Namensteil “Astoria” beigesteuert hatte, war ihm schon vorausgegangen: er befand sich 1912 unter den ersten und letzten Passagieren der “Titanic”.

Auf eine weitere merkwürdige Koinzidenz stoßen wir, wenn wir nun das Schicksal der Zigarettenfabrik in Stuttgart und des gleichnamigen Hotels in New York betrachten. Von beiden ist heute ausser dem Namen nichts mehr übrig. Die Zigarettenfabrik musste 1929 im Zuge der Weltwirtschaftskrise geschlossen werden; nur der Name der “Astor”-Zigaretten blieb erhalten. Und das Hotel wurde im selben Jahr abgerissen, um auf dem freiwerdenden Grundstück das Empire State Building bauen zu können. Im heutigen Waldorf-Astoria-Hotel lebt nur der Name weiter - und die Geschäftsidee natürlich.

Bleibt zuletzt noch die Frage, woher Walldorf - heute längst kein Dorf mehr - seinen Namen hat. Man könnte an die natürlichen “Wälle” in seiner Umgebung denken - Sanddünen aus der Eiszeit. In der ersten urkundlichen Erwähnung von 770 n. Chr. heisst der Ort jedoch “waltdorf”, also Dorf im Wald, was die Lage noch treffender wiedergibt. Ein armes Dorf, auch tausend Jahre später noch, als Johann Jakob Astor hier geboren wurde.

Copyright  Klaus Frisch 2004

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